Die Westküste entlang: Der Starlight Express fährt in 35 Stunden über mehr als 2000 Kilometer Bahnstrecke von Los Angeles nach Seattle.

Es ist ein silberner, doppelstöckiger Gruß aus vergangenen Zeiten, dem die Surfer und Wellenreiter am Strand zwischen Santa Barbara und San Luis Obispo da plötzlich zuwinken - erst verhalten, dann immer heftiger: ein hochglanzpolierter Lindwurm aus Stahl und Aluminium von einer halben Meile Länge mit zwei Loks vorweg. Der Zug kam von hinten und hat sie überrascht, als sie ihre Bretter für den nächsten Ausflug aufs Wasser vorbereiteten. Nur ein paar Dutzend Meter vom Pazifik entfernt verlaufen hier die Gleise, die breite Küstenstraße ist weit entfernt.

Und nur einmal am Tag stampft der Coast Starlight Express auf dem Weg von Los Angeles nach Seattle vorbei, ein weiteres Mal in Gegenrichtung auf dem Weg zurück in den Heimatbahnhof. Er wirkt dabei wie aus der Zeit gefallen in einem Land, wo die Menschen jeden Meter mit dem Auto zurücklegen und Schienen allenfalls dann nutzen, wenn sie mit der U-Bahn unter ihren Wolkenkratzern hindurch zur Arbeit fahren.

Die Surfer am Pazifikstrand sehen diesen Nachmittag nicht, dass die Leute hinter den Fenstern der 60 Jahre alten Panoramawagen, der Schlafwagenabteile und der Bord-Cafeteria zurückwinken. Zu grell blendet das Licht der Sonne, das auf die Scheiben und die silberne Außenhaut des Zuges fällt. Aber sie hören, was der Lokführer ihnen mitzuteilen hat: Dreimal lässt er es gewaltig tuten, lässt die Lok mit aller Macht zurückgrüßen.

35 Stunden benötigt der Coast Starlight Express für die mehr als 2000 Kilometer lange Strecke von Kaliforniens Mega-Metropole bis an die Fjorde des US-Nordwestens - erst direkt am Pazifik entlang, später durch dichte Nadelwälder, an Wasserfällen und einsamen Seen vorbei, durch Tunnel und Gebirge. Mit Aussichten, die man nur von den Gleisen, nur von diesem Zug aus hat. Es ist eine Bilderreise voller Amerika-Nostalgie.

+++Auf dem Highway der Hochgefühle+++

"Meistens fliege ich die Strecke", erzählt einer am Nebentisch im Speisewagen. "Aber so komme ich entspannter an. Das liegt an dem anderen Reisetempo." Jetzt lächelt er - und blickt über Hühnersalat mit Ananas hinweg auf den Ozean. Zwei Plätze weiter albert ein Vater mit seinem Sohn herum. Beide tragen ohne das geringste Gefühl von Peinlichkeit Schaffnermützen aus Pappe, die der Kleine gerade geschenkt bekommen hat. Und noch ein paar Plätze weiter hält ein älteres Pärchen Händchen beim Blick in Richtung Pazifik.

Mit Luxus hat dieser Zug trotz Schlafwagen, trotz eigener Toilette in den teuersten Abteilen, trotz Speisewagen und À-la-carte-Menü wenig zu tun. Er ist in die Jahre gekommen und immer noch in erster Linie Fortbewegungsmittel. Die Betreibergesellschaft Amtrak steht nicht allzu hoch in der Gunst der Politiker, die Fördergelder verteilen, und erwirtschaftet selber haarscharf das Geld, um mit Ach und Krach zu überleben - aber nicht genügend, um groß zu investieren, Waggons rundzuerneuern und an vielen Stellen Kleinigkeiten auszubessern. Es macht nichts - wenn man es weiß und nicht mit falschen Erwartungen kommt.

Amerikas Westen ist für Patricia Dickinson gerahmt und hinter Glas. Sie sieht ihn nur durch die vielen Fenster ihres Waggons, hat beim Bettenmachen den Blick erst auf den Ozean, später auf die Berge. Die Frau ist Zugbegleiterin und pendelt ein Berufsleben lang zwischen L.A. und Seattle. Seit fast 30 Jahren ist sie mit dabei. Ob Patricia Dickinson einen Lieblingsbahnhof hat? "Ja, eindeutig", sagt sie. "Den von Los Angeles. Die Union Station." Weil es von hier aus nur gut eine Stunde mit dem Bus bis nach Hause ist. Aber auch, weil es ein großer alter Bahnhof mit hohen bemalten Holzdecken, mit Bänken und schweren Ledersesseln aus einer Zeit ist, als Zugfahren noch eine große Sache war. Als die Eisenbahn dieses Land zusammengeführt hat und Flugzeuge noch keine Rolle spielten. Es ist kaum 100 Jahre her, und der Bahnhof sieht aus, als wären die beiden einzigen Neuanschaffungen seitdem der computerisierte Fahrkartendrucker hinter der Glasscheibe des ansonsten altertümlichen Schalters und der riesige Flachbildschirm mit der Baseball-Live-Übertragung über dem Bar-Tresen im Wartesaal der Schlafwagen-Passagiere.

+++Ein ganz privates Roadmovie+++

Einmal in Fahrt, braucht es zwei Stunden Geduld, bis der Coast Starlight Express endlich den Hinterhof von Los Angeles passiert hat. In langsamer Fahrt geht es durch immer gleiche Gewerbegebiete, vorbei an Großparkplätzen, Lagerhallen, Tankstellen und Shoppingmalls. Und mit einem Paukenschlag tut sich plötzlich der Pazifik auf. Die Straßen scheinen anderswohin abgezweigt zu sein, sind nun hinter mindestens einer Hügelkette verborgen. Nur die Gleise sind noch da - und die Wellenreiter, die Surfer, dazu ein paar Leute, die am Strand zelten, als hätten sie irgendwo ihren Planwagen geparkt und gäbe es die Welt drum herum nicht.

Ein paar Dutzend Meilen weiter bei Paso Robles rollt der Zug zwischen sattgrünen Weiden hindurch. Niedrige Sträucher wachsen am Bahndamm, Heidekraut zieht sich die Hügel mit ihren runden Kuppen hinauf, und schon bald wird es schroffer. Der Tag geht, und irgendwer hat draußen plötzlich die Sterne gehisst. Nach dem Abendessen im Zug wird es still. Ein paar Menschen sitzen noch im Panoramawagen, plaudern oder träumen schweigend mit einem Glas Wein in der Hand, das Steward Sergio serviert hat. Er ist seit zwei Jahren dabei und glücklich darüber, im Job so viel herumzukommen. Vorher hat er bei McDrive Hamburger durchs Fenster in wartende Autos gereicht. Bald gehen die meisten Passagiere für die nächsten 500 Meilen schlafen und merken nichts vom Halt in Oakland, nichts vom Stopp in Sacramento. Beim Frühstück irgendwo in Oregon wundern sie sich nur über die neuen Gesichter an Bord - und über die völlig veränderte Landschaft, über dichte Wälder und darüber, dass die Lok kaum noch tutet. Sie muss es nicht mehr, denn es gibt weniger Straßen, kaum Bahnübergänge, fast niemanden, der vor dem herannahenden Zug gewarnt werden muss. Wenn dann doch mal eine Schotterstraße kreuzt, wartet dort allenfalls ein einsamer Pick-up an der Schranke.

Zur Aussicht auf Wasserfälle und von gewaltigen Talbrücken hinab auf stille Seen serviert Sergio nun Kaffee im Halbliterbecher und Zitronenkuchen. Und ganz nebenbei springen ein paar Rehe weg von den Gleisen Richtung Sümpfe, während Patricia Dickinson bereits wieder Betten macht: damit die Passagiere, die keine zwei Stunden später in Seattle für die Rückfahrt einchecken, es hübsch haben werden - und von Bett oder Sitz aus großes Kino durch die Panoramascheiben erleben können.