Wenn rund um die Kathedrale und an der Playa die Touristenmassen ausschwärmen, gehen Insider in anderen Vierteln auf Tauchstation. Denn in den einstigen Hinterhöfen liegen heute die spannenderen Bars, Cafés, Galerien und Restaurants.

Hier irgendwo muss er sein, der kleine Platz. Ich war doch gestern schon einmal da, allerdings erst nach Umwegen im Altstadtlabyrinth. Dann ließ ich mir im Hotel einen Stadtplan geben. Leider keine Lupe. Denn die "Plaça de sa Quartera" ist darauf so winzig, dass man sie ankreuzen muss, sonst findet man sie nicht wieder. Dabei ist es eine Entdeckung.

Noch vor ein paar Jahren hätte man in diesem Teil Palmas nur eines gesucht: das Weite. Die Straßenzüge zwischen der Einkaufsmeile Sindicat und den Avingudas waren zum Hinterhof der Altstadt verkommen: In den Gassen schnüffelten dürre Hunde an Müllhaufen, die Häuser verfielen, Dealer machten die Straßen unsicher. Sa Gerreria, einstiges Quartier der Kunsthandwerker, hatte seine Tradition verloren und seinen Namen. In Mallorcas Hauptstadt hieß es abschätzig "barrio chino", Chinesenviertel.

"Hier herrschte die schlimmste Drogenbande der Insel, die Leute trauten sich abends kaum vor die Tür", erzählt Ana Barcelona, die mit ihrem Mann Santi am Quartera-Platz eine Teestube betreibt. Man kann sich das nicht vorstellen, wenn man nun all die frisch getünchten Fassaden sieht, die bunten Fensterläden, die Blumen auf den Balkonen. Überall haben Geschäfte, Galerien und Restaurants eröffnet. Früchte einer Erneuerung, die begann, als die Stadt mitten ins Problemviertel den neuen Justizpalast stellte und gleichzeitig Geld in soziale Projekte steckte. Die Dealer sind verschwunden, Prostituierte kaum noch zu sehen, es gibt ein Bürgerzentrum und Nachbarschaftsinitiativen. Junge Anwälte eilen in Anzug und Krawatte zur Verhandlung, während auf der anderen Straßenseite vor der Caritas Marokkaner und Obdachlose auf eine warme Mahlzeit warten.

Ein Stück Großstadtnormalität, und gerade deshalb ein ungewohntes Bild. Sonst gibt sich die Inselmetropole so herausgeputzt, als wollte sie jedes Jahr einen Schönheitspreis gewinnen: mit einer der imposantesten Kathedralen der Welt, mit Flaniermeilen und Ausgehvierteln.

Der Charme eines Viertels wie Sa Gerreria liegt darin, dass es sich noch um sich selbst kümmert und wenig um seine Außenwirkung. Es wird sich weiter verschönern, davon zeugen die vielen Baugerüste. Aber seine beste Zeit ist vielleicht jetzt, wo noch nicht jedes Haus saniert, jede Miete gestiegen, jede Speisekarte viersprachig ist. Zwischen Zerfall und dem Zeitpunkt, wo eine Gegend angesagt, überlaufen und von manchem alteingesessenen Bewohner nicht mehr zu bezahlen ist, liegt die spannendste Phase. Man kennt das vom Prenzlauer Berg in Berlin oder vom Hamburger Schanzenviertel.

Insofern ist es ganz gut, dass sich der Quartera-Platz ein bisschen versteckt. Das vegetarische Restaurant "Plaer Natural" ist so schon bis auf den letzten Platz besetzt, jedenfalls zur spanischen Mittagszeit um halb drei. Menschen mit Reiseführern in der Hand sieht man keine, wohl auch deshalb sind die Preise ganz und gar untouristisch: Das täglich wechselnde Vier-Gänge-Menü kostet 13 Euro. Ich bestelle Salat von Paprikaschoten, Gemüse-Curry, Auberginenlasagne, Schokoladentorte. Und fürchte: Ob das gut ist für diesen Preis? Es ist besser als gut, auch für meinen Gaumen, der auf Lammschulter und Paprikawurst geeicht ist, wenn es nach Mallorca geht. Von der Empore sieht man, wer für diese Qualität schuftet: ein Wirbelwind in gelbem T-Shirt mit gelber Brille, der unablässig Bleche aus dem Ofen zieht, Soßen und Dressings auf Teller träufelt. Ignaçi Ignacio heißt er und ist ein ganz ruhiger Typ, wenn die Gäste gegangen sind. Bis zu 16 Stunden habe er früher in der Sterne-Gastronomie gearbeitet, erzählt der 32-Jährige, bis sein Körper gegen Stress rebellierte: "Beim Schneiden von Steaks" wurde ihm "plötzlich schwindlig und übel". Er nahm den Kollaps als Warnzeichen: "Ich wusste, ich würde nie wieder Fleisch verarbeiten können." Und noch etwas viel Grundsätzlicheres sei ihm klar gewesen, als er und seine Frau Monica 2008 ihr eigenes Restaurant eröffneten: Es muss Zeit bleiben für die Familie. Sein Sohn war damals ein knappes Jahr alt. "Deshalb öffnen wir nur mittags, von eins bis vier. Einen Monat im Jahr schließen wir, letztes Jahr waren wir im August vier Wochen in Indien." So kann man überleben? "Hier im Viertel schon", sagt Ignaçi, "wir bezahlen wenig Miete und haben Stammgäste, die mehrmals die Woche kommen. Wir werden sicherlich nicht reich, aber wir sind glücklich, so wie es ist."

Den Eindruck machen auch die Jungs vom "Flexas". Die Eckbar in der angrenzenden Llotgeta-Gasse ist Dreh- und Angelpunkt des Viertels. Lolo und Aurelio, beide schwul, begrüßen Stammgäste mit Küsschen, und Estrella, der Koch, der eigentlich Fernando heißt, flucht in seiner offenen Küche herum, nicht aus Ärger, sondern weil ihm das Spaß macht. Wer jedoch als Neuling meint, hier mit offenen Armen empfangen zu werden, bekommt einen Dämpfer. Als ich mich zur Siesta-Zeit an einen der freien Bistrotische in der Mitte setzen will, schickt mich Lolo in die Ecke an den Katzentisch vor der Kellertreppe, die zu den Toiletten führt. Ich sei schließlich allein, da reiche der eine Stuhl, der da stehe. Die brauchen einen hier nicht. Nehmen sich sogar raus, als Kneipe sonnabends und sonntags geschlossen zu haben. Beleidigt wieder gehen? Ich setze mich an die Theke. Bestelle einen cortado, der ist kräftig, wie überall, wo man sich um Touristen nicht schert. Abends komme ich zum Essen wieder: Die kleinen Gerichte, von Hirschragout bis Spinatkroketten, sind fabelhaft, und der "Anima Negra An/2" ist mit drei Euro pro Glas so günstig, dass man immer wieder nachbestellt.

Je mehr Leute hineinströmen und je lauter es zugeht an Tischen und Theke, desto mehr frage ich mich, wieso der Laden auf Gay-Seiten im Internet auftaucht. Das hier ist kein Schwulentreff, kein Szeneladen. Das ist eine Lindenstraßenkneipe, für Leute, die sich kennen und ankündigen, dass sie morgen wieder da sind. Man müsste hier wohnen, um Teil davon zu werden. Beim dritten Besuch schenken mir Lolo und Aurelio tatsächlich einen "Na, wieder da?"-Blick.

So wunderbar man im "Flexas" oder der nahen Tapas-Kneipe "Molta Barra" versacken kann - tagsüber gibt es hier zu viel zu sehen, als dass man lange am Tresen stehen sollte. Da ist Trudi Murray mit ihren Seifen, ach was, duftenden Kunstwerken, die man eher in einer Shoppingzone vermuten würde. Aber die Deutsche, die auf ihrer Finca bei Andratx produziert, hat diesen Standort sehr bewusst gewählt. "Genau an dieser Stelle befand sich früher eine Kerzenmanufaktur, und beide Handwerke sind eng verwandt, so kann ich quasi eine Tradition fortsetzen." Gleich gegenüber liegt der Korbladen der Familie Vidal. Vollgestopft mit Körben, Sombreros, Hängematten. Mehr als hundert Jahre alt sei das Geschäft, erzählt der 68-jährige José Vidal, der Seniorchef. Er zeigt auf zwei Holzstühle, deren Sitzflächen neu geflochten wurden und die auf Abholung warten. "Mein Sohn Tomás hat das gemacht, er gehört zu den Letzten, die so was noch können."

Aussterbendes Handwerk wiederzubeleben, auch das gehört zum Sanierungskonzept für Sa Gerreria, das seinen Namen von "gerra" (Tonkrug) ableitet. Allerdings wirkt der "Passeig per l'Artesania" (Promenade des Handwerks) inzwischen selbst wie ausgestorben. Nur hinter einem der Schaufenster erblickt man einen Menschen, die Töpferin María Luisa Capitel. "All die Läden für Glas, Leder, Schmuck und Textilien haben trotz Subventionierung nach und nach dichtgemacht. Für mich reicht es gerade zum Überleben", erzählt die etwa 70-jährige Dame. Sie steht zwischen Hunderten ihrer Keramikfiguren: Katzen, Engel oder Edelfräulein, die nach dem "Las Meninas"-Gemälde von Velázquez gefertigt sind, kleine zu 95, die großen für 170 Euro. Als ich wieder auf den Platz hinaustrete, habe ich ein schlechtes Gewissen, nichts gekauft zu haben. Aber eine Erkenntnis gewonnen: Wo man mit Touristen kalkuliert, da wird es das Viertel nicht leicht haben. Darin kann auch etwas Gutes liegen.

Stadtteile im Wandel, die ein ganz anderes Palma zeigen - es gibt noch mehr davon: am Meer. Portixol, Es Molinar, Ciutat Jardí. Ich kannte diese Namen bisher bloß als Autobahnabfahrt. Dabei gibt es für den Weg zu den ehemaligen Fischerdörfern ein besseres Verkehrsmittel: das Fahrrad. Also auf zu "Palma on bike", auch im Gerreria-Viertel. Dass es heute solche Leihstationen gibt, ist ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein großer für die iberische Halbinsel. An der Promenade fädle ich mich einfach ein in den Strom der Jogger, Biker und Inline-Skater - und dann immer geradeaus, am Meer entlang.

Zuerst Portixol: früher Palmas Fischerhafen, heute ein teures Wohnviertel mit einer Marina für Yachten. Nicht zu übersehen: das "Hotel Portixol". Von Weitem ein viereckiger Klotz, innen schick, auf der Terrasse lässig: dunkles Holz, weiß-blaue Stoffe, Kellner, die einen in Frieden lassen, selbst wenn man anderthalb Stunden mit einem cafe con leche und einer Zeitung zubringt.

Hinter Portixol liegt es Molinar, das nach den Getreidemühlen benannt ist, die früher die Landschaft prägten. Fischerhäuschen stehen Wand an Wand. Am noch leeren Strand flicht ein Mädchen seiner Mutter Zöpfe. Vor den Bars und Restaurants trinken sie Kaffee, lesen Zeitung. Die Mallorquiner haben Bänke aufgestellt, beschattet von Holzdächern auf Stelzen.

Die Viertel gehen fließend ineinander über und sind so unverbaut, dass Hotels noch als Orientierungspunkte dienen können. Wenn das himmelblaue "Azul Playa" auftaucht, ist man in Ciutat Jardí angelangt. Ein Hotel war es auch, das der Gartenstadt ihren Namen gab: ein Nobelbau aus den Zwanzigerjahren, um den herum Wohnhäuser entstanden. Gartenstadt - das passt wunderbar zur Ruhe und Beschaulichkeit hier.

Man muss für die Stadtflucht nicht weiter fahren als diese drei Kilometer, die Ciutat Jardí vom Zentrum trennen. Tagsüber liegt man am Strand oder zeigt sich auf der Dachterrasse des "Peñon", einer Fischerkneipe von 1957, wo DJs den Soundtrack zum Sonnenuntergang liefern. Abends isst man Sushi im "Wasabi Blue", Paella im "Safrà 21" oder Pizza bei Lorenzo vom "Mania Mare", der einen anschließend rüberschickt in die "Forum Urban Lounge". Dort sitzt der Chef am Piano: Mike Pidone, Sizilianer, Glatze, Sonnenbrille. Wer Glück hat, bekommt einen Platz direkt am Flügel. Der Musiker erfüllt fast jeden Wunsch, von Sinatra bis Lucio Dalla. Er hat mit Showgrößen wie Al Jarreau, Randy Crawford, George Benson gearbeitet. Deutschen Gästen erzählt er von seiner Zeit in Hamburg mit Drafi Deutscher. Dann röhrt er los, mit einer Kraft in der Stimme, die Marmor, Stein und Eisen brechen könnte.