Im Schneckentempo quer durch Bilderbuch-Schweden - mit dem Jubilar “Wilhelm Tham“ auf dem Göta-Kanal, der West- und Ostküste verbindet.

Schweden. Das passt beim besten Willen nicht. Da sind ja höchstens noch zwei Zentimeter Platz an jeder Seite - zwischen Bordwand und Mauer. Aber Kapitän Kenneth bleibt stur. Jetzt wissen die Passagiere der "Wilhelm Tham" auch, warum die Möwen am Kai von Göteborg gelacht haben, gestern, als die Menschen ihre Trolleys die Gangway hinauf aufs Schiff gezogen haben. Das konnte ja nicht gut gehen: Auf so einem alten Kahn. Wer ist bloß auf diese Schnapsidee gekommen? Aber Kenneth steuert die schwimmende Antiquität mit schwedischer Beharrlichkeit (oder ist es Weisheit?) in die Minischleuse, als befehligte er ein Gummiboot mit biegsamen Kanten. Nachbarn mit Grundstücken am Kanal kommen angelaufen. Sie wollen wohl die Katastrophe verhindern helfen - stehen aber tatsächlich nur so herum und halten einen Plausch mit Julia, dem flinken Bordmädchen, das einfach so vom Schiff auf die Kaimauer und zurück hüpft, den Tampen in der Hand. Und das um 6.30 Uhr in der Früh. Am Sonnabend! Haben die nichts Besseres zu tun?

Dass die Passagiere auf der "Wilhelm Tham", dem Ausflugsschiff, das dieses Jahr seinen 100. Geburtstag feiert, heute Morgen schon um 5.10 Uhr aus den Betten fielen, ist etwas anderes. Das lag nämlich daran, dass Kapitän Kenneth etwas unsanft die Kaimauer der ersten Schleuse dieses Tages touchierte. Vielleicht haben die Kanalbauer vor 200 Jahren den Wasserweg zwischen Göteborg und Stockholm mit seinen 66 Wasserstufen einfach zu schmal geschaufelt. Man würde es ja verstehen, bei 190,5 Kilometer Länge, die die 58 000 schwedischen Soldaten von Hand ausgehoben und weggesprengt haben (und dann mussten sie ja auch noch den ganzen Aushub wegschaffen!). Da zählte jeder Zentimeter.

Heute liegt der Kanal deshalb auch wie im Dornröschenschlaf. Für den Transport zwischen der West- und Ostküste Schwedens spielt er keine Rolle mehr. Alles Mögliche wird jetzt schneller und günstiger per Laster und Eisenbahn durchs Land gebracht. Und die großen Schiffe mit viel Stauvolumen haben dort nicht ausreichend Platz "unterm Kiel". Aber die Schweden hängen am Wasser, und so halten sie den Göta-Kanal und die dazugehörigen Schleusen und 50 Brücken für Freizeitkapitäne sowie die drei Schiffe der Kanalgesellschaft - "Juno", "Diana" und "Wilhelm Tham" - fahr- und betriebsbereit.

+++Erfolgreiche Jungfernfahrt+++

Auf der Fahrt kann es passieren, dass die Reisenden morgens mit Blick auf ein Rapsfeld unter eine der beiden Bordduschen gehen - und wenn sie wieder herauskommen, mit nassen Haaren und noch feucht hinter den Ohren, befinden sie sich mitten in einem Garten mit ochsenblutfarbenen oder sonnengelben Holzhäuschen und schauen den Schweden aufs Frühstücksbröd. Gott sei Dank: Die lächeln ganz freundlich, sie haben ja auch allen Grund. Der lange Winter ist vorbei, und die Natur greift wieder kräftig in den Malkasten. Gelb blüht der Raps, blau die Kornblumen, bunt die Uferböschung. Und jetzt kommt auch noch ein blütenweißes, dreistöckiges Schiff vorbei.

Die "Wilhelm Tham" fährt jeden Sommer hin und her - im Wechsel mit den beiden Schwesterkähnen fast täglich. Sie fährt seit genau 100 Jahren, und trotzdem: An jeder Schleuse, an jeder beweglichen Brücke gibt es einen Menschenauflauf, wenn das gut gepflegte, mit modernsten Motoren ausgestattete Unikum auf dem Wasser erscheint. Der Göta-Kanal, das "Blaue Band", und alles, was darauf schwimmt, sind einfach beliebt.

Gleich am zweiten Tag der Reise erscheint auch noch ein kompletter Chor an der Bordwand: Die bibeltreue Familie Kindbom steht - drei Generationen stark - am Kai von Forsvik, Gitarren vorm Bauch und Blumen in der Hand, sie begrüßt Schiff und Passagiere mit inbrünstig gesungenen Liedern. Ihren Segen haben wir also.

Gut zu wissen, denn manchmal scheinen die Höhenunterschiede kaum überbrückbar zu sein, die Schleusenstufen doch zu arg. Und als das ehemalige Dampfschiff auch noch eine Landstraße per Brücke überquert, halten sich einige die Augen zu. "Ob die wohl hält?" Randi lacht laut über solch eine Heidenangst. Die nette Schwedin aus Uppsala mit ihren kurzen blonden Haaren und den bunten Schals, die so schön im Wind flattern, ist Zimmernachbarin, Pardon, Kabinennachbarin, und teilt sich mit ihrem Mann Ante ein Miniminiräumchen. Das ist viel kleiner als jedes Schlafwagenabteil der Deutschen Bahn: nur zwei übereinandergestapelte Kojen, die man zur Nachtruhe herunterklappt. Dazu ein Nachttischchen, das beim Öffnen mit einem Waschbecken überrascht - das ist schon der ganze Komfort auf dem detailreich restaurierten historischen Fährschiff.

Macht aber nichts. Man sitzt eh vor der Kabine auf bequemen Korbsesseln - jemand hat blaue Fleecedecken hineingelegt - und genießt den Ausblick wie auf einem Balkon. Bilderbuch-Schweden zieht vorbei, man sitzt gleich in der ersten Reihe. Und ganz nebenbei passiert es, plötzlich und unerwartet: die Entdeckung der wunderbar erträglichen Leichtigkeit der Langsamkeit. Eine ruhige Unaufgeregtheit breitet sich in einem aus, eine geradezu meditative Gelassenheit.

Aus der werden die 60 Passagiere (mehr passen nicht aufs Schiff) nur herausgerissen, wenn wieder mal die Schiffsglocke dingdongt und man sich die steile Holztreppe zum Speisesaal hinunterstürzt: Mahlzeit! Die schwimmende Antiquität serviert: Krabbensalat mit Avocado, Entenbrust mit Cassissauce und eine Schokoladentarte mit Rosmarinhonig. Die Schweden am Tisch sind enttäuscht: "Wie? Kein Sill? Kein Hering?" Die Nationalspeise steht erstaunlich selten auf dem Menüplan der Reise, aber dennoch sollten sich Fleischliebhaber darauf einstellen: In irgendeiner Form zaubert die Kombüse jeden Tag ein köstliches Gericht mit Fisch und Meeresfrüchten. Und wenn es nur zum Frühstück ist.

Kleine Städtchen ziehen vorüber, das Kanalmuseum in Trollhättan, die Festung Karlsborg, das Automuseum in Montala. Die "Wilhelm Tham" überquert den Vänersee, den größten See Schwedens und drittgrößten Europas. Man sieht, wie Schleusen von Hand bedient werden und kleine Segelboote das Schiff überholen. Irgendetwas ist immer los, und dann gibt es auch noch eine aufregende Sensation: die Carl-Johan-Schleusentreppe. Sieben Stufen hat sie, und wenn man bei der ersten aussteigt und hinunter zum Roxensee wandert, kann man die "Wilhelm Tham" ganz oben liegen sehen, während ihre Passagiere zur Erfrischung in die angenehm kühlen Fluten des Sees hinausschwimmen. Keine Bange! Es ist Zeit genug, ein paar Bahnen zu ziehen und sich hinterher gemütlich abzutrocknen. Das Schiff braucht ziemlich lange, bis es seine Gäste unten am See wieder in Empfang nimmt.

Zum Schluss hat das schwimmende Zuhause auf Zeit 66 Schleusen in vier Tagen problemlos passiert. Bravo! Der Schärengarten vor Stockholm zeigt noch mal zum Abschied Hunderte von Mini-Eilanden mit lauter hübschen Bullerbü-Häuschen drauf, Kinder winken freudig, und da sind sie auch wieder, die kreischenden Möwen. Gerade als die "Wilhelm Tham" in Stockholm einläuft und die Stadt sich von ihrer allerbesten Seite zeigt. Da lachen die Seevögel wieder, aber diesmal klingt es erleichtert. Na, wir haben es ja doch geschafft!