Auf 3000 Quadratkilometern erstreckt sich das Biosphärenreservat Mittelelbe, eine Wildnis, wie sie nur noch selten in Deutschland vorkommt.

Dunkle Gewitterwolken ziehen über der Elbe auf, als Peter Neuhäuser mit fünf ungeübten Paddlern ins Schlauchboot steigt. Das Wasser steht niedrig, die Strömung ist stark. Mit leichten Schlägen geht es durch Flussschleifen, gesäumt von Wiesen, Sträuchern, Bäumen, dazwischen weiße Sandstreifen. Weit und breit kein Schiff, nicht mal ein Lastkahn. Und nirgends Bebautes, kein Haus, keine Siedlung. Ein Rotmilan schaukelt über dem Ufersaum. In einer mächtigen Schwarzpappel nisten Seeadler. Ein Kuckuck ruft. Aus der Ferne läuten Kirchenglocken von Jerichow herüber.

"Die Elbe ist wie ein Feldweg der Gewässer", sagt Peter Neuhäuser, Biologe und Leiter des Zentrums für Ökologie, Natur- und Umweltschutz im Dörfchen Buch. "Für die Schifffahrt hat sie hier keine große Bedeutung." Im Schlauchboot auf Natursafari inmitten idyllischer Auenlandschaft kann man darüber nur jubeln. Auf 3000 Quadratkilometer erstreckt sich das Biosphärenreservat Mittelelbe, eine Wildnis, wie sie nur noch selten in Deutschland vorkommt. "Mehr als 12 000 Tier- und Pflanzenarten leben hier", sagt Neuhäuser. Darunter die "Big Five" - Biber, Otter, Storch, Kranich und Adler.

+++120.000 junge Aale in der Elbe ausgesetzt+++

Dieses Naturbiotop liegt mitten in Deutschland, im Norden von Sachsen-Anhalt. Das einstige Grenzland, die Altmark, ist eine der am dünnsten besiedelten Regionen der Republik. Hier findet man Storchendörfer wie Wahrenberg, ein Dorf mit 350 Einwohnern an der Elbe, wo die Welt zu Ende zu sein scheint. Die Fähre ist seit 20 Jahren außer Betrieb. Auf Dächern und Masten brüten dieses Jahr 15 Storchenpaare, ziehen ihren Nachwuchs auf und brechen Ende August ins Winterquartier nach Südafrika auf. Leider fänden viel zu wenig Besucher den Weg nach Wahrenberg, sagt Norbert Krebber, der im ehemaligen Fährhaus das Projekt Elbehof aufbaut: Tagungshaus und Kontaktstelle, mit angeschlossenem Flusscafé. Die früheren Gasthäuser sind längst geschlossen. "Die jungen Leute, besonders die jungen Frauen, zieht es fort", sagt Amtstierarzt Thoralf Schaffer, einer der wenigen, die den umgekehrten Weg gegangen sind: Er ist aus der Großstadt in das Elbdorf geflüchtet, wo er eine Ruhe findet wie nirgends sonst.

110 Kilometer zieht sich der Elberadweg, der von Cuxhaven bis nach Tschechien reicht, durch die Altmark. Man radelt durch Auwälder, üppige Wiesen, Felder und Eichenalleen, bis an der Mündung des Flüsschens Tanger in die Elbe die trutzigen Türme der mittelalterlichen Kaiser- und Hansestadt auftauchen. Tangermünde muss einst sehr reich gewesen sein. Das backsteingotische Rathaus sieht aus wie eine Kathedrale, und die Fachwerkhäuser an den Kopfsteinpflastergassen strahlen Bürgerstolz aus. Mitten auf schmaler Straße steht der Eulenturm, wo die unglückselige Grete Minde, 1617 der Brandstiftung bezichtigt, auf glühenden Kohlen zu Tode gemartert wurde. Dass es sich wohl um einen Justizirrtum gehandelt hat, wusste der Dichter Theodor Fontane noch nicht, als er ihr mit einer Novelle ein literarisches Denkmal schuf.

Berühmt ist Tangermünde auch für sein "Kuhschwanzbier". Früher ging der Ausrufer am Tag vor Braubeginn durch die Stadt und rief: "Leute, Leute, lasst euch sagen, morgen darf kein Kuhschwanz im Tanger baden." Doch es klappte nie, dass alle Kuhschwänze aus dem Wasser waren, was dem Bier seine Würze und seinen Namen gab.

+++Auf Streife: Durch die Auen hoch zu Ross+++

In einem 350 Jahre alten Fachwerkhaus am Stadtbrunnen, winzig neben der hohen gotischen St.-Stephans-Kirche, kann man in Tiemo Schönwalds Erlebnis-Gaststube Exempel in die Vergangenheit eintauchen. Der junge Wirt, der einen Pferdeschwanz trägt, serviert hier mit seiner Nichte Stine Altmärkisches in historischem Ambiente. Vor 100 Jahren, erzählt Schönwald, befand sich im ersten Stock die Schulstube des gestrengen Kantors, unten wohnte er. Alles ist noch da, Schlafzimmer, Wäschekammer, gute Stube, Schulbänke, Tafel und Rohrstock. Die Speisekarte sieht aus wie ein Schulheft und steckt voller Geschichten. Doch am schönsten ist es, in den Schlafstuben eine Nacht zu verbringen. Jedes Zimmer ist anders und entführt mal in Wallensteins Lager, mal in Königin Luises Salon. Wer Glück hat, erwischt das Kaiser-Karl-Gemach mit breitem Baldachin-Bett, Holzzuber und einem Holzthron als Toilette.

Ein Mann in bordeauxrotem Gewand, einen weichen, gewellten Hut tief ins Gesicht gezogen, steht am Kai des Wassertouristikzentrums von Havelberg, der Domstadt am Zusammenfluss von Havel und Elbe. "Hansekaufmann Hagen von Allemann, 700 Jahre alt", stellt er sich vor und besteigt mit seinen Gästen den 14 Meter langen Katamaran "Tom". Auf dem Hausboot geht es zu einer Vier-Insel-Wasser-Stadtrundfahrt, natürlich weit komfortabler als in alten Zeiten. "Die Stadt Havelberg, das ist die Insel hier rechts", erklärt der Mann im historischen Kostüm, der eigentlich Detlef Tusk heißt. Wir schippern durch die Wasserlandschaft, unterbrochen von Aussichten auf die Altstadt und vorbei an der Camping- und der Biberinsel. "Die Leute werfen Äpfel von der Fußgängerbrücke, weil da unter der Pappel eine Biberburg ist, sieben Tiere im Moment, die kommen dann morgens und abends heraus." Die vierte und kleinste Insel ohne Brücke wird Ziegeninsel genannt, weil im Frühjahr sechs bis 13 Ziegen auf das Eiland übergesetzt werden; sie bleiben bis zum Herbst, gestört nur von Kormoranen.

Ein paar Kilometer weiter, bei Werben, kommt man nur per Gierseilfähre, auch "fliegende Brücke" genannt, über die Elbe, auf weiter Strecke der einzige Übergang. Die Fähre hängt an langen Drahtseilen, sie bewegt sich ohne Motor nur mit der Strömung, während der Fährmann die Richtung aussteuert. Drüben erwartet den Passagier die "kleinste Hansestadt der Welt". Werben ist über 1000 Jahre alt, mit schmalen, gewundenen Gassen, gesäumt von Fachwerkhäusern, auf denen im Sommer an die 20 Storchenpaare nisten.

+++WWF kritisiert: Wattenmeer nicht genug geschützt+++

Am nördlichen Rand der Altmark, nahe dem niedersächsischen Wendland, liegt der Arendsee mit gleichnamigem Luftkurort, ein viel besuchtes Urlaubsziel mit Strandbad, Campingplatz und Unterkünften jeder Kategorie. Der fast runde See, nach Salzauslaugung durch Erdeinbrüche entstanden, ist bis zu 50 Meter tief und sehr fischreich. Spezialität ist die ungewöhnliche Maräne, die wie ein Hering aussieht. Ein besonderes Schauspiel erlebt man im November, wenn die Wildgänse zurückkehren, zu Tausenden, um auf dem See Station zu machen. "Wenn's schummerig wird, so zwischen vier und fünf, kommen die ziemlich hoch angeflogen und trudeln völlig übermütig runter auf den See", erzählt Burghard Bannier, der Direktor des Hotels Deutsches Haus. Am Bootssteg hat er eine Sauna mit kleinem Fenster für seine Hausgäste. "Da sitzt man bei 90 Grad und grauem Wetter auf dem See, sieht die Vögel draußen und hört das Geschnatter - das ist für mich Wellness", schwärmt Bannier.

Zu DDR-Zeiten verlief die Sperrgebietsgrenze mitten durch den See. "Ein Badegast am Nordufer ohne Passierschein galt schon als Republikflüchtling", sagt Naturführer Christian Starck, unterwegs mit einer Radlergruppe, und zeigt auf einen Markstein vor der Fünf-Kilometer-Sperrzone. Der Weg führt nach Ziemendorf, wo noch die frühere Grenztruppenkaserne steht, heute ein Hotel mit einem Dokumentationszentrum.

Eine kurze Strecke weiter erreicht man die Wirler Spitze am "Grünen Band", dem Todesstreifen entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze. In diesem Niemandsland hat sich ein besonderer Lebensraum für seltene Tier- und Pflanzenarten entwickelt.

Wir wandern in den Grenzstreifen hinein, in eine Art Binnendüne. Der ursprüngliche Kiefernwald wurde abgeholzt, damit Flüchtende besser zu sehen waren. Im Wäldchen am Rande des Streifens das traurige Bild eines Holzkreuzes, das an Bernhard Simon erinnert, der mit seinem Bruder flüchten wollte, auf eine Mine trat und starb.

"Das Böse und das Schöne gehen hier hin und her", sagt Starck. Manchmal kommt er in der Dämmerung ganz allein her. Einmal, als es dunkler wurde und der Mond aufging, hörte er plötzlich ein lautes Surren. "Das ist der Ziegenmelker, der fliegt mit irren Geräuschen umher, klack-klack-klack, früher wurde er Geistervogel genannt." Und während der Ziegenmelker ruft und fliegt, kommt ein Rehbock genau am Grenzstreifen entlang, geht auf den Mann zu, sieht ihn im letzten Moment, kriegt einen Schreck und fängt an zu bellen - "wie ein heiserer Hund", sagt Starck. "Man denkt vielleicht, hier ist nur Sand und Heide, was soll da schon los sein. Aber in diesem trockenen Lebensraum habe ich die schönsten Erlebnisse gehabt."