Turbo-Abitur und Ganztagsschulen könnten Athleten ausbremsen: “Wir brauchen individuelle Lösungen.“

Ahrensburg. In der zwölften Klasse des Gymnasiums am Schulzentrum Glinde bleibt Charlotte Bauers Platz von Mittwoch an erst einmal leer. Die Stemwarderin hat fünf Tage Niederlande gebucht, mitten in der Unterrichtszeit, sie hatte keine terminliche Alternative: In Holten sind am Wochenende die Europameisterschaften der Junioren im Triathlon, die 18-Jährige ist eine der Favoritinnen.

Viele solcher Auszeiten kann sie sich ein Jahr vor der Abiturprüfung nicht erlauben. Auch deshalb hat sie diese Saison auf einen Platz im Nachwuchs-Bundeskader verzichtet. "Ich bin nicht eine, der alles so zufällt in der Schule. Wegen der Kaderlehrgänge hätte ich einfach zu viele Fehlzeiten", sagt sie. Die deutsche Jugendmeisterin muss sich gut organisieren, um zwischen Unterricht, Hausaufgaben und dem fast täglichen Training den Überblick zu behalten.

Das Turbo-Abitur und die Ganztagsschule könnten Athleten wie sie künftig ausbremsen, fürchtet Thomas Behr vom Landessportverband (LSV). "Die Verkürzung der Schulzeit um ein Jahr bedeutet nun mal, den gleichen Stoff in kürzerer Zeit lernen zu müssen. Bis zum späten Nachmittag im Unterricht zu sitzen, kostet die jungen Leute aber Kraft und Motivation", sagte er der Stormarn-Ausgabe des Hamburger Abendblattes. Und LSV-Geschäftsführer Thomas Niggemann sieht "gruselige Perspektiven für den Jugend-Leistungssport in den trainingsintensiven Disziplinen".

Ob Schule und Sport vereinbar sind, hänge schon jetzt ganz von den Lehrern und der Hilfe der Mitschüler ab, sagt Leichtathletin Nadja Käther (20). Vor einem Jahr hat sie die Abiturprüfung am Ahrensburger Heimgartengymnasium bestanden. "Ich hatte sehr viel Glück, dass die Lehrer tolerant waren und Klassenkameraden zum Beispiel bei gemeinsamen Referaten auf mich Rücksicht genommen haben. Aber ich weiß, dass es viele Gegenbeispiele gibt", sagt sie.

Käther studiert inzwischen auf Lehramt, will später an einer Einrichtung wie der Hamburger Eliteschule des Sports arbeiten. Dort werden Stunden- und Trainingspläne miteinander abgestimmt, Übungseinheiten sind so auch am Vormittag möglich. Meist sind Unterrichtsräume und Sportstätten in unmittelbarer Nähe zueinander untergebracht. Neben den sportlichen unterliegen auch die schulischen Leistungen einer ständigen Kontrolle.

In Stormarn und in ganz Schleswig-Holstein gibt es vergleichbare Schulen noch nicht, ein Mangel, der schwer zu beheben sein wird, fürchtet Behr. "Wir haben einen Standortnachteil, das Land ist einfach zu dünn besiedelt für ein flächendeckendes System mit Sportklassen. Trotzdem müssen wir unseren Talenten bestmögliche Bedingungen bieten, und dabei spielen Ausnahmemöglichkeiten wie die Schulzeitverlängerung eine wichtige Rolle", sagt der LSV-Funktionär. "Gelingt uns das nicht, ist es eventuell so, dass in Zukunft manche Karriere endet, bevor sie begonnen hat."

Auf der Suche nach individuellen Lösungen für besonders talentierte Nachwuchssportler hat Behr die "deutsche Reglementierungswut" als größte Hürde ausgemacht, er fordert eine intensive Diskussion. "Im Innenministerium muss man sich die Kernfrage stellen, ob man sich zur Eliteförderung bekennt", sagt er. "Es gibt die Musik- und Hochbegabtenförderung, aber der Leistungssport kommt zu kurz."

Für Behr geht es auch darum, die Athleten im Land zu halten, statt sie mangels vernünftiger Perspektiven in Schleswig-Holstein an andere Regionen Deutschlands zu verlieren. Im Fall der Bargteheider Triathletin Rabea Ludwig (18) ist es schon zu spät: Seit einem Jahr besucht sie ein Sportinternat in Potsdam, kann dort problemlos ihre Schulzeit um ein Jahr strecken.

Längst nicht für jeden Teenager ist es eine Option, weit weg von der Familie für die Sportkarriere zu pauken. Jugend-Nationalspieler Ole Markscheffel (15) hat es anderthalb Jahre lang am Tischtennis-Internat in Düsseldorf ausgehalten, dann ist der heimatverbundene Bargteheider zurückgekehrt. Um vieles musste er sich im Leistungszentrum keine Gedanken machen, die Freistellung für Trainingslager und Wettkämpfe lief automatisch. Er musste aber auch ein Stück seiner Freiheit hergeben. "Hier bei meinen Eltern habe ich keine festen Hausaufgabenzeiten und keine feste Bettruhe", sagt er. "Ich trainiere jetzt zwar etwas weniger, bin dafür aber motivierter."

Ole hat Glück, spätestens um 14.30 Uhr ist für ihn Schulschluss. "Hätte ich täglich bis 16 Uhr Unterricht, wäre das einfach zu stressig mit dem Training", sagt er. Für ihn wäre eine Sportschule in der Nähe die ideale Lösung, "es gibt viel zu wenige solcher Einrichtungen", sagt er.

Charlotte Bauer wäre schon mit flexibleren Unterrichtszeiten zufrieden, ihr Frühtraining vor der ersten Stunde könnte dann ein wenig später beginnen. Ein Internat lehnt sie ebenso ab wie eine Sportschule. "Ich brauche den Rückhalt, den mir meine Familie gibt", sagt sie, "außerdem muss ich nicht auch noch in der Schule nur unter Sportlern sein."

Behr versucht derweil, in kleinen Schritten voranzukommen. "Mir fehlt bei den Schulen der Wille, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen", sagt er und kämpft dafür, die Spitzentalente fürs Erste bei Bedarf wenigstens mit Nachhilfestunden unterstützen zu können - immerhin ein Anfang. Behr: "LSV und Land haben schon vieles gemeinsam erreicht. Ich hoffe, dass wir auch diesmal eine Lösung finden." Die Athleten selbst sind da eher skeptisch, ihnen fehlt die Lobby. Käther: "Die Leute denken einfach viel zu wenig an den Sport."