Reinbek. Jede fünfte Frau hatte schon mal eine Fehlgeburt. Viele fühlen sich in ihrer Trauer allein. Wie das Reinbeker Krankenhaus Betroffenen hilft.

Jeder Stern an der Säule ist ein Symbol für ein Kind, das den Mutterleib nicht lebend verlassen hat. Die himmelblaue, knapp drei Meter hohe Holzsäule steht jetzt in der Kapelle des Reinbeker Krankenhauses. Zum Gedenken an ihre verstorbenen Kinder können Eltern, Geschwister und Großeltern einen Stern anbringen. Totgeborene Kinder, die weniger als 500 Gramm wiegen, werden als Sternenkinder bezeichnet.

Die Idee für die Himmelssäule hatte Krankenhausseelsorgerin Annemarie Nyqvist. Die 38-Jährige gehört zu den Ersten, die mit der Trauer über den Verlust konfrontiert wird. Sie weiß, wie wichtig solche Erinnerungsorte bei einer Fehlgeburt sind: „Wir möchten der Trauer einen Raum geben. Die Betroffenen können einen kleinen Rohling von der Wand nehmen, in Ruhe zu Hause anmalen, gestalten und später dann hier wieder aufhängen.“

Reinbeker Krankenhaus: Jedes Jahr rund 100 Ausschabungen

Noch ist die Säule ziemlich leer. Doch wird sie sich schneller füllen, als es sich viele Paare wünschen. Denn jede fünfte Frau hat im Laufe ihres Lebens eine Fehlgeburt. „Die Zahlen variieren stark“, sagt Andrea Schulz-Colberg, Sprecherin des Adolf-Stifts. „Wir haben nur die eingerechnet, die auch von der Schwangerschaft wussten.“ Die Dunkelziffer ist also viel höher.

Wenn eine befruchtete Eizelle oder ein Fötus nicht lebensfähig sind und es zu einer Fehlgeburt kommt, ist manchmal ein operativer Eingriff in einer Klinik nötig, damit Gewebereste nicht zu einer Infektionsgefahr für die Mutter werden. Rund 100 dieser Ausschabungen werden pro Jahr im Reinbeker Krankenhaus durchgeführt. Darunter sind sowohl Frauen, die sich in der ganz frühen Phase der Schwangerschaft (ab der sechsten Woche) befinden, als auch in der fortgeschrittenen Phase (bis zur 22. Woche). Zu diesem Zeitpunkt, im sechsten Monat, ist das Baby etwa 26 Zentimeter groß und 400 Gramm schwer.

St. Adolf-Stift begleitet die Eltern und bietet ihnen Möglichkeiten zu trauern

Obwohl es so viele Frauen betrifft, ist das Thema Fehlgeburt immer noch ein gesellschaftliches Tabu und mit Scham behaftet. Das führe dazu, dass die Betroffenen mit der Situation und ihrer Trauer allein sind, sagt die Theologin Nyqvist. Hier setzt das St. Adolf-Stift als christliches Krankenhaus an und begleitet die Eltern in dieser Zeit und bietet ihnen Möglichkeiten zu trauern.

Totgeborene Kinder, die weniger als 500 Gramm wiegen, werden nicht im Geburtenbuch aufgeführt, haben keine Eltern, bleiben namenlos und müssen nicht bestattet werden. In Hamburg liegt die Gewichtsgrenze noch höher. Hier muss das totgeborene Kind mindestens ein Kilogramm wiegen, um im Geburtenbuch auftauchen. Diese „rechtlosen Kinder“ gelten seit 2013 als sogenannte „Sternenkinder“. Eltern steht es frei, sie beim Standesamt im Personenstandsregister eintragen zu lassen.

Nach Fehlgeburt: Föten werden auf Reinbeker Friedhof gemeinschaftlich bestattet

Es war die Idee des langjährigen und mittlerweile verstorbenen Krankenhausdirektors Lothar Obst, diesen Kindern mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Er initiierte vor Jahren für diese Sternenkinder Gemeinschaftsbestattungen auf dem Reinbeker Friedhof. Fläche und Pflege finanziert das Krankenhaus.

Es gibt drei Gemeinschaftsbestattungen pro Jahr. Jedem Termin wird ein Symbol zugewiesen, sodass die Eltern den Gedenkstein schneller wiederfinden können. Die Sternenkinder-Bestattungen haben ein christliches Fundament, werden aber möglichst offen gestaltet – was den vielen nicht-religiösen Eltern Rechnung trägt.

Manche Betroffene sprechen erst Jahre später über den Verlust

Der nächste Termin ist am Dienstag, 6. Juni, um 14.30 Uhr. „Es ist die Möglichkeit, sich mit dem Kind ein letztes Mal auf den Weg zu machen. Es zu Grabe zu betten und Abschied zu nehmen“, sagt Seelsorgerin Nyqvist. Die Zahl der Teilnehmenden an den Gemeinschaftsbestattungen schwankt. Das Grabfeld selbst aber suchen Angehörige immer wieder auf. Sie bringen ihren Kindern Kerzen, Blumen und Engelsfiguren mit.

Genauso wichtig wie Abschied nehmen, ist das Gespräch über den Verlust. Seelsorgerin Nyqvist: „Viele Angehörige lehnen das zunächst ab.“ Einige stehen nach dem medizinischen Eingriff noch unter Schock, andere brauchen mehr Zeit, um den Verlust zu realisieren. „Einen Gesprächspartner zu haben, der nicht mit in der Trauer versinkt und dennoch die Traurigkeit auszuhalten wagt, tut vielen aber gut“, ist ihre Erfahrung.

Sterne dürfen an der Säule für immer hängenbleiben

Es gibt manche Betroffene, die erst Monate oder Jahre später das Gespräch suchen. Nämlich dann, wenn die Gefühle überhand nehmen. „Schuld, Scham, Verzweiflung, Angst, Sorge und Ungewissheit können sehr schwer wiegen“, sagt die Seelsorgerin. Wenn der Partner die Gefühle nicht teilt oder anders fühlt, dann mische sich auch noch Einsamkeit darunter.

Für diejenigen ist die Seelsorgerin da, hört zu und zeigt ihnen die Himmelssäule. Die Kapelle im Krankenhaus ist von 6 bis 22 Uhr geöffnet und steht allen Betroffenen offen – auch denjenigen, die nicht im Reinbeker Krankenhaus eine Fehlgeburt hatten. Die Sterne, die an die Säule angebracht werden, bleiben für immer hängen. Es sei denn, die Eltern nehmen ihren Stern wieder mit.

Der zweite Adventssonntag ist der Weltgedenktag für alle Sternenkinder. Der fällt in diesem Jahr auf den 10. Dezember. In der Kapelle des Reinbeker Krankenhauses soll an dem Tag ab 15 Uhr gemeinsam an die verstorbenen Kinder erinnert werden.