Reinbek. Reinbeks Ehrenbürger wird heute 95 Jahre alt. Das Verhältnis des Schriftstellers zu seiner Heimat war nicht immer unbeschwert.

„Kaum ein Tag vergeht, ohne dass mir bei ein wenig grauem aber lichtem Himmel der 18. Mai 1938 wieder ins Gedächtnis komme. Mein ganzes Leben hat sich um dieses Datum herum aufgebaut, es ist der Tag, an dem ich meine buchenrauschende Heimat für immer verlassen musste“, schreibt Georges-Arthur Goldschmidt über sich selbst. Es ist der Tag, als der berühmte deutsch-französische Schriftsteller seine Heimat Reinbek verlor. 1928 wurde Georges-Arthur Goldschmidt hier als Sohn jüdischer Eltern, die zum Protestantismus konvertiert waren, geboren.

Er wuchs in der Villa mit großem Garten an der Kückallee 43 auf. Goldschmidt war gerade zehn Jahre alt, als ihn seine Eltern zusammen mit seinem vier Jahre älteren Bruder zum Schutz vor den Nazis wegschickten. Zuerst kamen sie bei einer Verwandten in Italien, später in einem französischen Waisenhaus unter. Ihre Eltern sahen sie nicht wieder, der Verlust, die Fluchterfahrung und das Heimweh prägen seitdem das Leben von Jürgen-Arthur Goldschmidt, wie der Geburtsname des Autors ist, und sein gesamtes schriftstellerisches Wirken.

Mit zehn Jahren hat der Reinbeker seine Heimat verloren

Mit Reinbek wird er sich versöhnen – die Stadt ernennt ihn 2015 zum Ehrenbürger. Einer, der daran einen entscheidenden Anteil hat, ist der Reinbeker Bernd M. Kraske (75), langjähriger Leiter der städtischen Kultureinrichtungen. Die beiden stehen im engen Austausch und sind mit den Jahren Freunde geworden. Heute, am 2. Mai, wird Reinbeks Ehrenbürger Georges-Arthur Goldschmidt 95 Jahre alt.

Er feiert in Paris, wo er mit seiner Frau lebt, bei bester geistiger Gesundheit ist und mit 95 Jahren immer noch schreibt. Eine Reise in seine Heimatstadt Reinbek wagt Goldschmidt nicht mehr. Er möchte seine Frau nicht allein lassen. Noch ein Grund mehr ihm von dieser Stelle aus zu gratulieren. Ein Gastbeitrag von seinem Freund Bernd M. Kraske.

Abendfüllende Gespräche im Hause Kraske

Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Geburtstag, lieber GAG! So darf ich Sie nennen. GAG steht für Georges-Arthur Goldschmidt. Wir haben uns oft in Reinbek gesehen. Das letzte Mal vor acht Jahren. Auch da haben wir, Sie mit Ihrer Frau Lucienne, viele Stunden in unserem Haus an der Schulstraße zusammengesessen und abendfüllende Gespräche geführt – über Reinbek und die Welt. Für mich als Literaturwissenschaftler war es immer eine besondere Ehre, einen berühmten Schriftsteller, Kenner und Liebhaber der deutschen und französischen Sprache bei mir zu haben.

Ihre Bücher kannte ich schon lange bevor ich wusste, dass Sie so viele schmerzliche Erinnerungen mit Reinbek verbinden. Umso erstaunter war ich, als ich 1987 in ihrem Buch „Der Spiegeltag“ von einem Reinbeker lesen musste, der aus seiner Heimat exiliert und in einem südfranzösischen Kinderheim Zuflucht gefunden hatte. Ich war zu dieser Zeit bereits Leiter der Kultureinrichtungen der Stadt und nach Reinbek gezogen.

Ein Mensch, der noch immer nicht loskommt von den Geschehnissen der Kindheit

Mein Interesse und meine Neugierde waren geweckt. Günter Kock, der damalige Bürgermeister, stimmte meinem Vorschlag sofort zu, Sie in ihre Heimatstadt einzuladen. Im November 1987 sind wir uns zum ersten Mal in Reinbek begegnet, fünf weitere Treffen sollten folgen. Mit jedem Besuch lernten wir uns besser kennen.

Ein intensiver brieflicher Gedankenaustausch begann, der bis heute anhält. Lese ich in den Briefen mit der schräg gestellten Handschrift, so begegnet mir ein Mensch, der noch immer nicht loskommt von den Geschehnissen der Kindheit, allerdings ohne Anklage und Vorwurf. Jedes Treffen nutzten wir für lange Spaziergänge durch Ihre Geburtsstadt.

Kaum ein anderer hat so eine intensive Beziehung zu Bäumen

Wir haben das Haus ihrer Kindheit an der Kückallee besichtigt, standen gemeinsam in der Maria-Magdalenen-Kirche und sind durch Völckers Park spaziert. Hier haben Sie sich auf den Boden gelegt, um von unten nachzuschauen, ob die Buchen noch die selben wie in ihrer Kindheit sind. Ich kenne kaum einen Menschen, der so eine intensive Beziehung zu Bäumen hat.

Wir haben viel miteinander gelacht, aber auch viele tiefgründige Gespräche geführt. Ich schätze an Ihnen, dass Sie kein Blatt vor den Mund nehmen. „Warum auch nicht, in meinem Alter habe ich nichts mehr zu verlieren“, haben Sie mal gesagt. Ihre Lesung im Sachsenwaldgymnasium ist legendär. Ich werde noch oft darauf angesprochen. „Ihr müsst die Zukunft richten, achtgeben, auf die Demokratie aufpassen“, haben Sie den angehenden Abiturienten mit lauter Stimme zugerufen – und ernteten Standing Ovations.

Mit Reinbek haben Sie sich im Laufe der Zeit ausgesöhnt und Sie, mein lieber Freund, hatten daran einen entscheidenden Anteil, schrieben Sie mir. Darauf bin ich stolz. Ich wünsche Ihnen, lieber GAG, beste Gesundheit, dass Sie weiter Kraft zum Schreiben finden und uns in Reinbek in Gedanken verbunden bleiben!