Bilanz: Gewerkschafter und SoVD-Chef Helmut Uder blickt auf zehn Jahre Hartz IV-Reform zurück

. Er wollte Journalist werden. Doch der Zufall führte Helmut Uder auf einen anderen Weg, direkt in den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). 1974 wurde der Reinbeker Pressesprecher des Landesverbandes Hamburg, war Regionalvorsitzender in Stormarn und seit 2002 Wirtschaftsreferent. "Ich habe viel von der Welt gesehen und mit Persönlichkeiten wie Willy Brandt am Tisch gesessen", erinnert er sich an die politisch aufregenden Jahre.

Inzwischen ist der 64-Jährige im Ruhestand, der ihn jedoch nicht von sozialem Engagement abhält. "Meine Frau freut sich, dass ich nicht den Haushalt durcheinander bringe", sagt er. Dafür hilft Uder jeden zweiten und vierten Montag im Monat im Reinbeker Rathaus ehrenamtlich als Versichertenältester der DRV Nord Ratsuchenden, Rentenanträge zu stellen. Allein 2014 waren es 450.

Seit März vergangenen Jahres hat der aktive Rentner dazu den stellvertretenden Kreisvorsitz und den Ortsvorsitz des Sozialverbandes Deutschland (SoVD) übernommen. "Das bringt mir sehr viel Spaß, hier tue ich etwas ganz konkret für die Menschen", sagt er. Und dass die seine Hilfe brauchen, zeigen die steigenden Mitgliederzahlen. Der Verein hilft unentgeltlich, wenn es darum geht, um Rentenbewilligungen oder verwehrte Krankenkassenleistungen zu streiten.

Ein Ausdruck sozialer Härte in der Gesellschaft

Während andere Vereine und Verbände über einen starken Mitgliederschwund und Nachwuchssorgen klagen, zähle der Stormarner Kreisverband des SoVD inzwischen 8000 Mitglieder. "Das ist ein Ausdruck der sozialen Härte in unserem Land."

Dass die in unserer Gesellschaft zunimmt, hat seiner Meinung nach auch mit einer Reform zu tun, die seit diesem Monat zehn Jahre in Kraft ist. "Hartz IV", das sogenannte Arbeitslosengeld II, wurde am 1. Januar 2005 eingeführt. Uder hat diese Zeit an politisch profilierter Position miterlebt. Im Gespräch mit Redakteurin Anne Müller zieht er Bilanz darüber, wie die Reform die Gesellschaft verändert hat.

Sie waren damals zu Zeiten der rot-grünen Koalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) Gewerkschafter. Was haben Sie sich von der Reform erhofft?

Wir hatten uns von der Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld versprochen, dass sich die Situation für Langzeitarbeitslose durch Leistungen aus einer Hand verbessert. Da waren wir wohl zu blauäugig. Selbst Hartz hatte später gesagt, dass er nie von so niedrigen Sätzen zur Existenzsicherung ausgegangen war.

Was würden Sie denn heute anders machen als vor zehn Jahren?

Wir hätten wohl damals stärker dagegen kämpfen sollen. Die Reform war rückblickend der größte Umbau unseres Sozialstaates in kürzester Zeit. Die Leistungen des ALGII bemessen sich nun nicht mehr am vorherigen Arbeitseinkommen, sondern werden nach Bedürftigkeit gewährt. Aus der Arbeitslosenversicherung wurde eine staatliche Fürsorgeleistung mit dramatischen Folgen für das soziale Klima.

Was sind die schlimmsten Folgen?

Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder hat sie damals auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos mit dem Satz "Wir haben in Deutschland einen Niedriglohnbereich etabliert" stolz auf den Punkt gebracht. Auf Menschen wird seitdem der Druck ausgeübt, jede Arbeit anzunehmen. Damit wurden der Niedriglohnsektor und die Minijobs gefördert.

Hat sich Hartz IV damit zur Turbomaschine prekärer Beschäftigungen erwiesen?

Ganz klar, Ja. 1991 gab es 6,3 Millionen Teilzeitbeschäftigte. 2013 waren es 14,5 Millionen. Die Zahl der Vollzeitbeschäftigten ging dagegen um gut sechs Millionen zurück. Mini-Jobs, Leiharbeit, Werkarbeitsverträge, befristete Jobs vermehrten sich explosionsartig.

Also kein echtes Jobwunder?

Quantitativ ja, aber qualitativ nein. Ich kenne aus meinen Beratungen Menschen, die drei bis vier Minijobs parallel machen, um überleben zu können und im Alter mit einer Minirente arm sein werden.

Was erwartet Minijobber im Alter?

Ein Arbeitnehmer, der 45 Jahre in Minijobs arbeitet und 8,50 die Stunde verdient, bekommt 645 Euro Rente.

Wie sehen Sie den Beschäftigungseffekt?

Die Zahl der Menschen, die auf Fürsorgeleistungen angewiesen sind, wurde nicht reduziert. Auch zehn Jahre nach Einrichtung des Systems sind immer noch mehr als sechs Millionen Menschen (2005: 4,98 Millionen) auf Hilfe zur Sicherung des Existenzminimums angewiesen.

Was wäre die Alternative zu Hartz IV gewesen?

Nicht der Ansatz, Druck auf die Menschen auszuüben und sie aufzufordern immer mehr schlecht bezahlte Jobs anzunehmen. Die Gesellschaft muss sich wieder stärker Gedanken darüber machen, wo sie hin will. Es gibt einen Riesenbedarf, zum Beispiel in der Bildung, oder in der Sanierung von Schulen. Da hätte Geld investiert werden müssen und das hätte Arbeit geschaffen. Vor allem muss die prekäre Beschäftigung zurückgedrängt werden.

Hat die Reform der Gesellschaft eher genützt oder geschadet?

Sie gefährdet den sozialen Frieden, da sie die Angst vor dem sozialen Abstieg geschaffen hat. Die hat inzwischen sogar schon die Mittelschicht erfasst. Jeder kann nach einem Jahr, maximal zwei Jahren Arbeitslosengeld auf Sozialhilfeniveau absteigen und muss jeden Job annehmen. Die Reform schafft Armut trotz Arbeit. Dieses Phänomen war in Deutschland vor der Reform unbekannt.