VHS-Leiterin Marlies Lehmann: “Unterrichten war mein Leben“

. Mit den nostalgischen Erinnerungen an Ampel- und Sandmännchen hat es Dr. Marlies Lehmann nicht so. "Dafür bin ich nicht der Typ", stellt die 58-Jährige nüchtern fest. Die heutige Leiterin der Volkshochschule Glinde erinnert sich allerdings noch sehr genau an die Ereignisse vor 25 Jahren in Berlin.

"Seit Februar 1989 arbeitete ich an der Technischen Hochschule in Ostberlin", erzählt Lehmann. "Die sollte das Pendant zur technischen Uni Westberlin werden. Ich lehrte damals für das Studium Generale über philosophische Probleme in den Naturwissenschaften. Unterrichten ist genau mein Ding."

Geburtstag unter den Vorzeichen des Mauerfalls

Jeden Tag sei wieder etwas Neues passiert. "Schon die Demonstration auf dem Alexanderplatz am 4. November dauerte Stunden", erinnert sie sich. "Am 7. November habe ich Geburtstag, am 8. ein damaliger Kollege. An dem Tag löste sich das Politbüro auf und beim Anstoßen scherzten wir nur: 'Mal sehen, was morgen passiert!'. Nur damit, was dann tatsächlich geschah, konnte keiner rechnen." Alle hätten in der damaligen, noch internetfreien Zeit viel ferngesehen. "Ich weiß noch, ich stand vor dem Fernseher, als Schabowski den bekannten Satz über die Reiseregelung brachte. Da habe ich mich nur zu meinem damaligen Mann Jörg Schindler umgedreht und gesagt: 'So, jetzt müssen wir uns alle einen neuen Job und eine neue Krankenversicherung suchen.'"

Viele hätten alles fallen gelassen und seien einfach gegangen. "Am 10. November waren keine Studenten mehr da und mir wurde klar, dass ich mich beruflich umorientieren musste. Die Technische Uni hatte nicht gerade auf zusätzliche Konkurrenz gewartet. Dabei war Unterrichten mein Leben!", erinnert sich die VHS-Leiterin. Schon damals hat sie in der Volkshochschule unterrichtet. "Diese Schüler des zweiten Bildungswegs waren noch da", erzählt sie. "Teilweise älter als ich wollten sie wissen: 'Was machst'n jetzt?' Und: 'Warst Du schon drüben?'"

War sie noch nicht. "Ich bereitete mich mental mit dem Quelle-, dem Otto- und dem Neckermann-Katalog vor", erzählt sie. "Erst nach zehn Tagen bin ich über die Grenze. Da war der größte Ansturm durch." Dann wurde sie jedoch eine alltägliche Grenzgängerin: Jeden Tag zog es sie in die Staatsbibliothek zu Berlin am Potsdamer Platz. An der Grenze wurde sie jedes Mal gefragt: "Wie viel Geld haben Sie dabei?" Stets antwortete sie: "Keins!" Denn sie wollte ihr Geld nicht ausgeben, hatte immer nur die Thermoskanne im Gepäck. "Denn eines werde ich nie begreifen: Warum durften die bestimmen, welche Bücher ich lese?" In der DDR brauchte sie selbst für einige Krimis, aber auch für Nietzsche oder Kant einen "Giftschein", um sie lesen zu dürfen. "Das bedaure ich bis heute. Denn wann hat man je wieder so viel Zeit und Lust zum Lesen wie in der Jugend?"

"Der Kapitalismus ist einfach überlebensfähiger"

Was den Systemwechsel angeht, ist Lehmann leidenschaftslos: "Das alte System war nicht in der Lage zu bestehen, der Kapitalismus ist einfach überlebensfähiger. Die Läden waren doch leer. Es gab eigentlich nur weiße und rote Kohlköpfe - und Schnapsflaschen." Nur in den Delikat-Läden in Berlin habe es alles gegeben, was man heute auch im Supermarkt findet - nur entsprechend teurer. Heute wundert sie sich über eine Schlagzeile der Saarbrücker Zeitung vom 20. November 1989: "Euphorie weicht Ernüchterung". In ihrer Erinnerung ging das nicht so schnell. Bis sie nach Glinde kam, dauerte es noch ein paar Jahre.

Zuerst eröffnete sie mit einer Freundin in Berlin eine Schreibwaren- und Buchhandlung. In der Rückschau stellt sie fest: "Wir sind doch ein sehr phlegmatisches Volk. Das hätte auch ganz anders ausgehen können. Wir haben monatelang Kerzen angezündet. Da hätten in Paris längst die Barrikaden gebrannt." Was das Sandmännchen betrifft: "Das war ein Talent des Puppenmachers. Hätte er auf der anderen Seite der Mauer gelebt, hätte das West-Sandmännchen so ausgesehen."