Bad Oldesloe. Nare Mistou (17) aus Bad Oldesloe ist Jesidin – und dankbar für ihr Leben in Freiheit. Sie hat ein bewegendes Buch geschrieben.

Nare Mistou ist 17 Jahre alt und besucht die elfte Klasse der Theodor-Mommsen-Schule in Bad Oldesloe. 2025 wird sie Abitur machen, möchte für ein Jahr ins Ausland gehen, danach studieren. Für Mädchen in Deutschland ist so ein Lebensweg nicht ungewöhnlich, für Nare Mistou aber alles andere als selbstverständlich.

Denn die Gymnasiastin ist Jesidin, kam 2013 mit ihrer Familie, die ursprünglich aus der Türkei stammt, nach Deutschland. „Würde ich heute nicht in einem westlichen Land leben, dann wäre ich jetzt wohl verheiratet und schwanger“, sagt sie. Ihr Ehemann würde über sie bestimmen, Schule, Studium und Arbeit lägen in unendlich weiter Ferne.

Frauenrechte: In Freiheit leben! Junge Jesidin schreibt bewegendes Buch

Vielleicht genau deshalb ist die Schülerin so wissbegierig und diszipliniert. Nachdem sie eingeschult wurde, verschlang sie Bücher, um die deutsche Sprache zu lernen. Dabei entflammte ihre Liebe zur Literatur. Als ihre Lehrer sie auf eine Gemeinschaftsschule schickten, weil sie es woanders angeblich nicht schaffe, fühlte sie sich deplatziert, war unterfordert. „Dort habe ich auch Rassismus erlebt“, sagt sie.

Den Eltern ihrer besten Freundin ist es mitzuverdanken, dass sie schließlich aufs Gymnasium wechselte. Dort blühte die 17-Jährige auf, hat einen Notenschnitt von 1,0, ist Schüler- und Kreisschülersprecherin und Stipendiatin der gemeinnützigen Start-Stiftung, die talentierte Schüler mit Migrationsgeschichte fördert.

Viele Menschen wissen nicht, was Jesiden genau sind

Für all das ist die 17-Jährige unglaublich dankbar. „Wären wir nicht nach Deutschland gekommen, hätte ich niemals diese Möglichkeiten gehabt“, sagt Nare Mistou. „Mir ist bewusst, was für ein großes Privileg es ist, zur Schule gehen zu dürfen.“ Aber nicht nur das: „In unserer alten Heimat ging es uns teilweise nicht gut, manchmal hatten wir auch nichts zu essen. Ich bin sehr froh, hier und heute in Fülle leben zu dürfen“, sagt sie.

Wenn Nare Mistou erzählt, dass sie Jesidin ist, dann komme es nicht selten vor, dass sie erklären muss, was das eigentlich genau bedeutet. Jesiden sind eine ethnisch-religiöse Gemeinschaft, die weltweit rund eine Million Angehörige hat. Die meisten leben im Irak, Syrien und der Türkei. Und: „Jesiden werden von der Terrororganisation Islamischer Staat verfolgt“, sagt die 17-Jährige.

Frauenrechte liegen Nare Mistou besonders am Herzen

Ein Thema, das Nare Mistou besonders am Herzen liegt, sind Frauenrechte. Zu oft haben die Frauen in ihrer Familie, ihre Mutter, Großmutter und Urgroßmutter, erlebt, dass sie unfrei sind – ein Schicksal, dass sie mit unzähligen Frauen auf der Welt teilen. „Hier in Deutschland ist in Sachen Gleichberechtigung auch nicht alles perfekt, Stichwort Gender Pay Gap“, so die Sülfelderin. „Aber woanders ist es oft noch viel schlimmer“, sagt sie. „Und auch in Deutschland, direkt um uns herum, leben viele Frauen, denen ihre Rechte abgesprochen werden.“

Das Cover und die Zeichnungen in dem Buch hat Nare Mistou selbst gestaltet. 
Das Cover und die Zeichnungen in dem Buch hat Nare Mistou selbst gestaltet.  © Juliane Minow | Juliane Minow

Frauenrechte spielen deshalb auch eine zentrale Rolle in dem Buch „Die zarte Blüte der Hoffnung“, das die 17-Jährige über das Leben ihrer Urgroßmutter geschrieben hat. Mit dem Text hat sie beim Young Storyteller Award, einem Nachwuchsautorenwettbewerb des Buchhandelsunternehmens Thalia, teilgenommen, landete auf Platz 10 der wettbewerbseigenen Bestsellerliste.

Junge Jesidin nahm an einem Schreibwettbewerb von Thalia teil

„Als ich von dem Wettbewerb erfahren habe, waren es noch vier Wochen bis zum Einsendeschluss“, sagt sie. Und dann war die Familie auch noch eine Woche im Urlaub. Doch die Geschichte, die sie erzählen wollte, ließ sie nicht los. Also setze sie alles in Bewegung, mobilisierte ihre Kräfte und schrieb – teilweise nächtelang. Auch das Cover und die Zeichnungen im Buch gestaltete sie selbst. „Schwierig war, dass der Umfang begrenzt war“, sagt sie. So habe sie ziemlich stark kürzen müssen.

Doch am Ende war die Anstrengung von Erfolg gekrönt: „Es war schwer, unter so großem Zeitdruck zu schreiben, aber ich habe es durchgezogen“, sagt Nare Mistou. „Wenn ich etwas mache, dann richtig.“ Die letzte Nacht vor dem Einsendeschluss habe sie durchgeschrieben, obwohl sie am nächsten Tag zur Schule musste, und ihren Text gerade noch rechtzeitig eingesandt.

Das Buch ist unter anderem bei Thalia und Amazon erhältlich

Ihr Buch ist jetzt unter anderem bei Amazon und Thalia erhältlich. „Ich habe viele Rückmeldungen dazu bekommen“, sagt sie. Viele Freunde und Bekannte haben das Buch gelesen, auch Gleichstellungsbeauftragte haben sich gemeldet und eine Berliner Frauenrechtsorganisation ebenfalls Interesse an dem Buch gehabt.

Der Roman erzählt die Geschichte von Nare Mistous Urgroßmutter in der Ich-Perspektive. „Sie war eine sehr starke Frau“, sagt die 17-Jährige. In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, wurde sie als junges Mädchen mit einem 20 Jahre älteren Mann verheiratet. Die Ehe war gewalttätig, nahm die Frau psychisch mit. Nachdem ihr Sohn, Nare Mistous Großvater, geboren war, flüchtete sie mit ihm vor dem Ehemann.

Die Geschichte von Nare Mistous Urgroßmutter hat ein Happy End

„Sie lernte eine Frau kennen, die ihr half und schließlich um etwas sehr Außergewöhnliches bat: nämlich darum, ihren Mann zu heiraten“, so Mistou. Die Frau konnte selbst keine Kinder bekommen, wollte ihrem Mann das Glück aber bescheren. So kam es. „Der Mann akzeptierte den Sohn meiner Urgroßmutter, gab ihr Raum und Zeit und wertschätzte sie“, sagt die Urenkelin. „Sie verliebten sich ineinander.“

Nahm die Geschichte von Nare Mistous Großmutter doch ein glückliches Ende, geht es vielen Frauen auf der Welt anders. Viele leiden unter strengen traditionellen Kulturen. Auch bei den Jesiden ist das oft so, auch heute noch, auch hier in Deutschland, das weiß Nare Mistou von Freunden. „Meine Eltern sind auch nicht super locker, aber sie lassen mich Erfahrungen sammeln, und vor allem ist es für sie das wichtigste auf der Welt, dass meine Geschwister und ich Zugang zu Bildung haben.“

Obwohl Frauen unterdrückt werden, ist Nare Mistou streng gläubig: ein Widerspruch?

Obwohl Frauen in ihrer Kultur oft unterdrückt werden, ist Nare Mistou selbst streng gläubig. Für sie ist das aber kein Widerspruch – im Gegenteil. „Kultur und Religion sind für mich zwei unterschiedliche Dinge“, sagt sie. „Die Kultur, das, was Frauen angetan wird, haben sich Menschen ausgedacht. Ich bin mir sicher, dass Gott das so nicht möchte.“

Auch interessant

Dass sie in Deutschland lebt und hier Freiheiten und Privilegien genießt, hat seinen Grund, daran glaubt Nare Mistou fest. „Ich weiß, dass Gott mir dieses Leben geschenkt hat“, sagt sie. Diese Chance wolle sie nutzen – und zwar nicht nur für sich selbst. „Meine Zwillingsschwester ist gestorben, als ich klein war. Ich möchte dieses Leben für uns beide leben.“

Und was das angeht, hat die 17-Jährige noch so einiges vor. Nach dem Abitur möchte sie studieren, wahrscheinlich Jura, um für die Rechte von Frauen zu kämpfen. Davor will sie ein Jahr ins Ausland gehen und Englisch unterrichten. Denn Bildung, ist sie sich sicher, ist der Schlüssel zur Freiheit. So war es auch für sie. Und auch literarisch soll es nicht bei ihrem Debütroman bleiben. Nare Mistou: „Ich bin sicher, es wird nicht mein letztes Buch sein.“