Ahrensburger Psychologin warnt: Ständiger Medienkonsum schränkt Entwicklung aller Sinne ein. Fürs Spielen in der Natur weder Zeit noch Lust

Ahrensburg. Gameboy, Smartphone, Spielkonsole, Laptop: Kinder beschäftigen sich nahezu rund um die Uhr mit technischen Geräten. „Und dieser Medienkonsum nimmt nicht nur immer mehr Zeit in Anspruch, sondern setzt auch immer früher ein“, sagt Maya Kersten, Physiotherapeutin und Diplom-Psychologin aus Ahrensburg. In ihrem Arbeitsalltag erlebt sie die Auswirkungen der Technikflut im Kinderzimmer. „Seh- und Hörsinn sind überstrapaziert, Gleichgewichts- und Tastsinn geschwächt“, sagt sie. Weitere Folgen sind Übergewicht und Haltungsschäden.

„Die Lebenswelt der Kinder hat sich drastisch verändert“, sagt Maya Kersten. Heute drehe sich alles um Bildschirm, Tastatur und Joystick. „Aber wo und wann können Kinder draußen allein auf Bäume klettern, balancieren und so Sinne, Muskeln und damit auch ihre Selbstkompetenz schulen?“, fragt sie. Doch gerade die Entwicklung aller Sinne sei Voraussetzung fürs Lernen. Um auf die Entwicklung aufmerksam zu machen, „deren Ausmaß auch fürs menschliche Gehirn noch gar nicht absehbar ist“, hat die Ahrensburgerin mit dem Circus Allmendus den Vortrag „Vom Schwinden der Sinne“ entwickelt.

Statt Baumhütten im Wald bauen Jungen in „Minecraft“ virtuelle Welten

„Wir sind nach der Schule in den Wald gezogen, haben dort im Spiel Regeln selbst aufgestellt und soziales Handeln erprobt, ohne dass gleich ein Erwachsener den Zeigefinger hob“, sagt die 52-Jährige. Heute würden in den PC-Spielen alle Möglichkeiten vorgegeben. Der Körper ist am Geschehen nicht mehr beteiligt – bis auf die Hand am Joystick oder an der Computermaus. Statt Baumhütten in der Natur werden, im vor allem bei Jungen beliebten „Minecraft“, virtuelle Welten gebaut. Statt mit selbst gebasteltem Pfeil und Bogen wird in sogenannten Ego-Shootern wie „Call of Duty“ per Mausklick geschossen. Mädchen verbringen ihre Zeit eher mit chatten, sind immer in Kontakt – und sitzen doch allein zu Hause.

„Die Entwicklung fängt schon im Kindergartenalter an“, sagt Maya Kersten. Sie kenne Eltern, die sich in Kitas nach dem medientechnischen Angebot für ihre Vier- bis Sechsjährigen erkundigten. „Dabei ist Matschen die Grundlage, um später mit der Technik zurechtzukommen“, sagt die Psychologin. Auch fürs Rechnen, Lesen und Schreiben sei die Entwicklung aller Sinne wichtig. Kinder müssten ihre Umgebung mit Hand, Herz und Fuß erkunden können. Eltern sollten Freiräume schaffen statt die Tage ihrer Kinder voll durchzuorganisieren – nach eigenen Ansichten, was der Nachwuchs braucht. Kersten plädiert dafür, den Mädchen und Jungen ihre Kindheit zu lassen: „Kinder spüren mit all ihren Sinnen, was sie für ihre Entwicklung brauchen, und tun intuitiv das Richtige.“

Mütter schauen aufs Smartphone und nicht zum Baby im Kinderwagen

Doch gerade diese Freiräume werden immer knapper. Das spiegele sich auch im boomenden Bereich der Erlebnispädagogik wider. „Wie konnte es dazu kommen, dass wir heute viel Geld bezahlen müssen, um im Kletterwald den Bäumen nah zu sein, wo wir früher mit unseren Freunden unorganisiert im Wald klettern konnten?“, fragt Kersten. Vielleicht sei auch das ein Grund dafür, warum Kinder und Jugendliche zunehmend in virtuelle Welten flüchten: Dort erleben sie fernab der Erwachsenen eine Freiheit, die es für sie in der realen Welt scheinbar nicht mehr gibt.

Nach einer Umfrage des Hightech-Verbands Bitkom hat ein Fünftel der Sechs- bis Siebenjährigen ein Smartphone – Tendenz stark steigend. Ab zwölf Jahren gehört es fast schon zur Standardausstattung. Das Internet nutzen rund 40 Prozent der Sechs- bis Siebenjährigen, knapp die Hälfte davon spielt online und schaut Videos. Für Maya Kersten eine alarmierende Entwicklung. „Computer haben im Kinderzimmer nichts zu suchen“, sagt sie, „und Grundschüler brauchen kein Smartphone.“ Auf einen klassenübergreifenden Verzicht könne man sich beispielsweise bei Elternabenden einigen.

Doch viele Erwachsene leben genau das Gegenteil vor, sind ständig online. „Kinder lernen seit Jahrtausenden durch Nachahmung, was für ihr Überleben wichtig ist“, sagt Kersten, „wie wirkt sich das auf die Entwicklung aus, wenn sie ständig erleben, wie ihre Mütter und Väter sich nur mit dem kleinen Kasten beschäftigen, statt den Blickkontakt zu suchen?“ Häufig hätten Mütter mit Kinderwagen das Handy in der Hand. Und Väter lächeln ihren Kindern bei der Einschulung nicht zu, sondern filmen alles.Die Botschaft für Kinder ist eindeutig: Der „kleine Kasten“ muss sehr wichtig sein.

Später werden Schüler ausgeschlossen, wenn sie zum Beispiel beim Klassenchat über WhatsApp nicht mitmachen. Ab der vierten Klasse geht’s los, ab der sechsten ist er beinahe die Regel. Manchmal prasseln Textmitteilungen und Fotos im Minutentakt auf die Empfänger ein. „Da werden auch nach Mitternacht Belanglosigkeiten ausgetauscht“, sagt Kersten. Die Schüler ständen permanent unter Druck, irgendetwas zu verpassen. Eine weitere Gefahr ist Cybermobbing: Jeder sechste Schüler sagt, schon mal im Internet beleidigt oder schikaniert worden zu sein.

Die Psychologin sieht Folgen des technischen Dauereinsatzes, die erforscht werden müssen: „Wie sind die Auswirkungen auf Motorik und Sprache? Was passiert mit der Hirnentwicklung?“ Sie appelliert an Eltern, nicht immer alles unter Kontrolle haben zu wollen und „freie Sinnesräume“ zu schaffen. Kersten: „Das ist es, was unsere Kinder für ihre körperliche, geistige und seelische Entwicklung brauchen.“