Karl-Heinz Ruge lebte und arbeitete 45 Jahre auf einem Bauernhof in Ahrensfelde. Ein Nachruf auf einen ganz besonderen Mann

Ahrensburg. Er hat den Stall ausgemistet, den ganzen Tag lang, wie so oft in seinem Leben. Am Abend hat sich Karl-Heinz Ruge in sein Bett gelegt, voller Pläne für den folgenden Tag: Zäune kontrollieren, Zäune reparieren, wie so oft in seinem Leben. Dann ist er eingeschlafen.

Am folgenden Tag aber ist Karl-Heinz Ruge morgens im Bett liegen geblieben. So etwas zu tun wäre ihm im Traum nicht eingefallen. An diesem Mittwoch vor einer Woche ist er einfach nicht mehr aufgewacht. Ein treues, ein starkes Herz hat aufgehört zu schlagen nach 78 Jahren und einem halben Jahr und einem Tag. Der Knecht ist tot.

Knecht. Das klingt heutzutage despektierlich. So aber hat sich „Karl, der Knecht“, selbst genannt. Und zwar mit Stolz. Auf dem Hof der Familie Rathjen im Ahrensburger Stadtteil Ahrensfelde hat es nie jemand als abwertend empfunden. „Er ist ein Familienmitglied gewesen“, sagt Cornelia Rathjen. Unvorstellbar, dass er morgen Abend nicht wie in jedem Jahr mit am Weihnachtsbaum sitzen wird. Es wäre das 45. Mal gewesen. Rathjen: „Bis jetzt haben wir noch nicht mal einen Weihnachtsbaum.“ Karl-Heinz Ruges plötzlicher Tod macht die Familie sehr traurig.

Sie kannten es nicht anders als mit ihm, Außenstehende dagegen staunten über ihn, der vielleicht der Letzte seiner Art war, ein Überbleibsel aus einer längst vergangenen Zeit. „Knecht? So etwas gibt es heute eigentlich nicht mehr“, sagt Klaus Dahmke, Sprecher des Bauernverbands Schleswig-Holstein. „Die Zahl der angestellten Mitarbeiter auf den Höfen steigt zwar stetig, da die Betriebe immer größer werden.“ Aber dass jemand bescheiden und aufopferungsvoll mit einer Bauernfamilie lebe, das sei eigentlich längst Geschichte. „Die Angestellten von heute“, sagt Dahmke, „haben andere Ansprüche.“

Ansprüche hatte und stellte Karl, der Knecht, nie. Sein Reich war zehn Quadratmeter klein, ein Zimmer gleich bei seinem Revier, bei den Kuhställen. Ein breites Holzbett, ein Tisch, ein Sofa, ein Farbfernseher, ein Schrank mit vier alten Koffern drauf. Nur ein bisschen Luxus gönne er sich dann und wann, verriet er einmal. Bei der Aral-Tankstelle an der Sieker Landstraße in Großhansdorf kaufe er sich Süßigkeiten, „aber nur die Guten“. Und einmal im Monat fahre er mit dem Taxi – wahlweise auch mit dem Traktor – nach Lübeck in die „Hanseatendiele“. Ein Tanzlokal.

Als er das vor etwas mehr als 15 Jahren erzählte, konnte ihm ganz Deutschland dabei zusehen. Kurz zuvor hatte Karl-Heinz Ruge Besuch von einem Fernsehteam bekommen. Die Reportage mit dem Titel „Karl, der Knecht – Treffpunkt Kuhstall“ lief in der Reihe „ARD exclusiv“ am Freitagabend im Ersten. 45 Minuten zur besten Sendezeit. Schon damals war sein Dasein etwas Besonderes. Und Ruge ließ sich filmen: im Muskelshirt bei der Arbeit, im feinen Anzug im Tanzlokal.

Ob im einen oder im anderen, er machte in beiden Outfits eine außerordentlich gute Figur. Er hätte auch das Zeug zum Model gehabt. Trotzdem gab es keine Frau in seinem Leben. Eine bewusste Entscheidung, die Karl, der Knecht, auch gut zu begründen wusste: „Für einen Junggesellen ist eine Mark eine Mark wert und nicht nur 50 Pfennig.“ Eine seiner vielen Lebensweisheiten. Eine andere: „Knechtsein ist Berufung. Da hast du nie ausgelernt.“

Karl-Heinz Ruge kam am 27. Mai 1970 auf den Hof in Ahrensfelde, als der heutige Besitzer Hans-Peter Rathjen sechs Jahre alt war. Zuvor hatte sich der gebürtige Mecklenburger auf anderen Höfen in Stormarn versucht, auch mal eine Tischlerlehre begonnen. „Da steht man die ganze Zeit auf einem Fleck. Nee, das war nichts für mich.“ Eigentlich hatte er Boxer werden wollen. Aber er war nicht gut genug.

Ganz anders in Ahrensfelde, wo er schlussendlich deutlich mehr als sein halbes Leben verbrachte. „Ich kenne ihn seit 1979“, sagt Rathjens Ehefrau Cornelia. „Er war 365 Tage im Jahr da, er war niemals krank.“ Einen Augenblick lang zögert sie. „Doch. Einmal ist er aus der Dachluke gefallen.“ Aber so etwas wie Grippe habe ihn nicht von der Arbeit abhalten können. „Dann hat er eben die Kühe versorgt und sich anschließend wieder ins Bett gelegt.“

Unvorstellbar für die heutige Generation der Angestellten in der Landwirtschaft. Für die gelte eine tarifvertraglich festgeschriebene 40-Stunden-Woche, sagt Klaus Dahmke vom Bauernverband. „Die meisten von ihnen leben nicht mehr auf den Höfen. Sie fahren morgens zur Arbeit wie jeder andere Arbeitnehmer auch und abends wieder nach Hause. Sie suchen, ja sie wollen diesen Familienanschluss auch gar nicht mehr.“

Ob Karl, der Knecht, den Familienanschluss gesucht hat? Er habe ein ganz normales Angestelltenverhältnis, sagte er einst. Nichtsdestotrotz hat er ihn gefunden. Heute um 11 Uhr wird Karl-Heinz Ruge auf dem Alten Ahrensburger Friedhof beigesetzt – im Familiengrab der Rathjens.