Deutschland-Premiere in Ahrensburg: Komponisten, Musiker und Darsteller haben 24 Stunden vom ersten Treffen bis zur Aufführung. Zuschauer sehen grandiose Show

Ahrensburg. Der dunkelgraue Linoleumboden ist hart, aber das scheint niemanden zu stören in dieser lauen Herbstnacht. Eine illustre Gesellschaft aus der Musical-Szene hat sich eingefunden im Ahrensburger Gewerbegebiet West. Gut 40 Frauen und Männer. Sie sind Autoren, Komponisten, Regisseure und Darsteller, ihre Referenzen sind die Namen der großen Musicals der vergangenen Jahre. Nun sitzen, hocken, kauern oder knien sie im Rund, umgeben von einem Meer aus Koffern, Taschen und Rucksäcken. Viele sind von weither angereist, um teilzuhaben an einer Deutschland-Premiere. Was sie in der Provinz vor den Toren Hamburgs genau erwartet, wie es sich anfühlen und ob es gelingen wird, das wissen sie nicht. Nur so viel: 24 Stunden später wird es vorbei sein, so der so.

Beinahe auf die Minute genau einen Tag später sind sie wieder alle zusammen, diesmal auf einer Bühne. Sie blicken hinab in den Alfred-Rust-Saal und lassen sich feiern. Das Publikum klatscht, johlt, kreischt. Eine grandiose Show ist gerade zu Ende gegangen. Jetzt ist es vorbei. Das erste 24-Stunden-Musical auf deutschem Boden ist ein voller Erfolg geworden. „Wir sind sehr zufrieden“, sagt der Ahrensburger Produzent Hauke Wendt. Seine Frau Jacqui hatte die Idee, das vom Broadway bekannte Benefizformat in die Schlossstadt zu holen. In Manhattan laufen „The 24 Hour Plays“ bereits seit 18 Jahren. „Wir brauchen mehr Events dieser Art in der Stadt“, sagt Bürgermeister Michael Sarach. Als Schirmherr hat er unter anderem den Festsaal am Wulfsdorfer Weg mietfrei zur Verfügung gestellt. Denn alle Akteure arbeiten ehrenamtlich, sodass alle Einnahmen dem Verein Lebenshilfe Stormarn zukommen.

Vom Feiern sind die Musicalstars 24 Stunden zuvor, da sie auf hartem Linoleum sitzen, noch weit entfernt. Ihre Aufgabe: In vier Gruppen aufgeteilt müssen sie erst mal erfinden, was am folgenden Tag aufgeführt werden soll. Vier kurze Musicals werden erwartet.

Wie kann das funktionieren? Aller Anfang ist ein Casting. Jennifer Siemann singt „I Can’t Let Go“ aus „Smash“, acht Takte. „Ich möchte mal nicht die Prinzessin sein“, sagt die 28-Jährige, die zurzeit in Berlin Udo Lindenbergs Mädchen aus Ost-Berlin spielt. Alle haben Requisiten mitgebracht. Jennifer wirft eine Fellmütze mit Eisbärengesicht und einen Revolver in die Runde.

Am Ende des Castings dürfen die Darsteller zu Bett gehen. Nun beginnt für die Kreativen eine Nachtschicht. Die Teams aus Autoren, Komponisten und Regisseuren wählen ihre Darsteller aus, vier pro Gruppe. Jennifer kommt ins Team Gelb um Autorin Nina Schneider, Komponist Adrian Werum und Regisseur Christoph Drewitz. Aber das darf sie noch nicht wissen.

„Nichts“, sagt Nina Schneider (u. a. „ShowDogs“), „ist langweiliger als eine Geschichte, bei der das Ende schon am Anfang absehbar ist.“ Sie hat sich viel vorgenommen für die Nacht. Adrian Werum (u. a. „Hollywood Diva“) wird versuchen, am Klavier Akkorde und Melodien zu finden, die zu den Einfällen und Texten seiner Kollegin passen, mit der er noch nie zusammengearbeitet hat.

Am nächsten Morgen werden die fertigen Werke vorgestellt: die Parabel „Der Schwan“ (Autor: Kevin Schröder; Komponist: Lukas Höfling; Regie: Geriet Schieske) um eine umschwärmte Frau, die alle Männer zappeln lässt. Die Märchenfortsetzung „Was kleines Gemeines“ (Autor: Titus Hoffmann; Komponist: Thomas Borchert; Regie: Jacqui Dunnley-Wendt): Aschenputtel und Co. sind von ihren Märchenprinzen gelangweilt und werden ihnen untreu. Und der Sketch „Käse oder Wurst?“ (Autor: Heiko Wohlgemuth; Komponist: Johannes Glück; Regie: Denny Berry), in dem es um eine Stewardess und drei Männer geht, die über den Wolken zu zwei Liebespaaren werden. So etwas ist schnell erzählt, gleichwohl unterhaltsam, untermalt mit eingängiger Musik.

Nina Schneider hat sich mehr vorgenommen. In ihrer Facebook-kritischen Geschichte „Am Faden“ kommen auch eine spukende Marionette, Geisterjäger, die eigentlich Einbrecher sind, Dornröschen und Aschenbrödel auf DVD und der Erfinder des Computers vor. Ganz schön viel für 20 Minuten Spielzeit. Aber für die Autorin ist jetzt Feierabend, es ist an Regisseur Christoph Drewitz (u. a. „Rocky“) zu inszenieren, was ihm vorgegeben worden ist.

Mit Jennifer Siemann, Wietske van Tongeren (u. a. „Rocky“), Mathias Edenborn (Titelrolle „Das Phantom der Oper“) und Enrico de Pieri (u. a. „49 1/2 Shades“) macht er sich im Ballettstudio Holtz an der Moltkeallee an die Proben. Viel später, am Nachmittag, steht die einzige Bühnenprobe vor der Show auf dem Programm, 45 kurze Minuten lang. „Ich kann mir meinen Text nicht merken“, stöhnt „Phantom“ Edenborn. Aber so geht es allen. Dieser Termin ist für die Komponisten beziehungsweise musikalischen Leiter auch die einzige Gelegenheit, einmal gemeinsam mit der Band zu spielen. Was Gitarrist, Bassist und Schlagzeuger spielen wollen, wird ihnen per Zuruf aufgetragen.

„Die Schauspieler haben gewirkt, als machten sie das seit Jahren“, sagt Regisseur Drewitz nach der Show. Stimmt. Aber wer hätte das, auf hartem Linoleum sitzend, 24 Stunden zuvor gedacht?