Seit fünf Jahren führt ein Stück Jakobsweg durch den Kreis. Es wird immer beliebter

Klein Wesenberg. Am Jakobsweg schätzen Silvia Alt und Kerstin Gethmann mehrere Dinge. Zum Beispiel, dass sie dort tagelang kaum einen Menschen sehen. Dass es auf der Route schöne, kleine Kirchen aus rotem Backstein gibt. Und dass ihnen „freundliche Stormarner“ weiterhelfen, wenn sie sich mal verlaufen haben.

Freundliche Stormarner? Ja. Denn die beiden Frauen, die aus der Nähe von Trier kommen, sind auf der Via Baltica unterwegs. Dabei handelt es sich um einen deutschen Abschnitt des Jakobsweges, jener berühmten Pilger-Route, die im spanischen Santiago de Compostela endet. 770 Kilometer ist die Via Baltica lang, sie verläuft zwischen Usedom und Osnabrück, von dort aus geht es weiter Richtung Süden. Vor fünf Jahren, im August 2009, wurde der neue deutsche Jakobsweg eingeweiht. Dafür musste kein einziger Wanderweg neu gebaut werden, die Route wurde auf bereits vorhandene Wege gelegt – etwa auf einen Teil des Alsterwanderweges und auch auf einen 60 Kilometer langen Abschnitt des Stormarn-Wanderweges.

Lohn der Namensänderung: Altbewährte Wanderrouten erfreuen sich auf einmal einer ganz neuen Beliebtheit. Das wird etwa in Klein Wesenberg registriert: „Wir haben von Jahr zu Jahr mehr Pilger zu Gast“, sagt Pastor Erhard Graf, dessen Kirche an der Trasse liegt. Wanderer können dort Rast machen und auch im Gemeindehaus übernachten. Je nach Wetter kommen, so Graf, zwei bis fünf Pilger am Tag vorbei, in diesem Jahr hatte er schon mehr als 100 Übernachtungsgäste. Zu ihnen gehören auch Silvia Alt und Kerstin Gethmann, die sich an diesem Morgen schon auf die Weiterreise vorbereiten.

Pilgerinnen wurden im Internet auf den norddeutschen Abschnitt aufmerksam

„Unsere Wanderung haben wir am Priwall in Travemünde begonnen. Jetzt geht es weiter zum Kloster Nütschau, das ist unsere nächste Herberge“, sagt Silvia Alt. In Hamburg-Poppenbüttel wollen die beiden in einigen Tagen den Jakobsweg verlassen und die S-Bahn zum Hauptbahnhof besteigen. Von dort aus geht es dann mit dem Zug zurück in die Heimat.

Auf die Via Baltica sind die Pilgerinnen im Internet aufmerksam geworden. Dass sie ausgerechnet hier wandern, hat mehrere Gründe: „Wir mögen die Region, haben ein bisschen Zeit am Meer verbracht, bevor es losging. Außerdem ist das hier für mich eine Art Training. Denn ich möchte im November eine Weile auf dem Camino Francés wandern, dem spanischen Teil des Jakobsweges“, sagt Silvia Alt.

Warum sie pilgert, erklärt die 49-Jährige so: „Ich bin jetzt fast 50 Jahre alt, habe drei Kinder und arbeite als Erzieherin in einer Kita. Die Mutter meines Mannes ist pflegebedürftig. Ich stehe zwischen den Generationen, manchmal fühlt man sich fast wie ein ausgedrückter Schwamm.“ So beschloss sie, dass eine Auszeit nötig sei. Ähnlich ist es bei Kerstin Gethmann: „Ich habe einige stressige Monate hinter mir, privat und beruflich“. Nun hat die 50 Jahre alte Architektin „immerhin in den vergangenen Tagen nicht mehr an den Job gedacht“. Auch bei Silvia Alt beginnt die Erholung zu wirken: „Wenn man sich in der Natur bewegt und am Abend die Muskeln weh tun, denkt man nicht mehr an den Alltag!“

Laut Erhard Graf sind die beiden Freundinnen aus Rheinland-Pfalz so etwas wie die typischen Pilgerinnen auf der Via Baltica. „Ungefähr zwei Drittel sind weiblich, viele von ihnen sind älter als 40. Und die meisten, die hier unterwegs sind, kommen aus Deutschland.“ Hin und wieder kommen aber auch Wanderer aus Großbritannien oder Skandinavien vorbei. Davon zeugt das Gästebuch, das auf einem Tisch in der Küche der Pilgerherberge liegt, im oberen Stockwerk des Gemeindehauses. „What a pleasant surprise to find a pilgrim home in Klein Wesenberg“, schreibt ein Wanderer, der sich „Clausen“ nennt. Ihre Lebensgeschichte in Kurzfassung hat eine Frau aufgeschrieben, die mit „Gertrud aus Barcelona“ unterschreibt. Andere zeichnen kleine Impressionen ihrer bisherigen Wegstrecke oder malen die Jakobsmuschel, das Symbol des Pilgerweges, in phantasievollen Variationen in das Buch.

Zwischen Pilgern und Wandern gibt es große Unterschiede, sagt der Pastor

Dass Menschen sich auf dem Weg intensiv mit Lebensthemen beschäftigen, ist für Erhard Graf ein Kernelement des Pilgerns. Denn das sei keineswegs mit Wandern zu verwechseln. Graf: „Ein Wanderer genießt einfach die Natur. Ein Pilger hat sich oft vorher mit einer Frage auseinandergesetzt, die er auf dem Weg klären will.“

Dabei könnten auch die spirituellen Orte helfen, die auf dem Weg liegen. Wie etwa die Kirche in Klein Wesenberg, die für Erhard Graf ein ganz besonderer „Kraftort“ ist. Schließlich war der Hügel oberhalb der Trave schon in vorchristlichen Zeiten ein heiliger Ort – vor dem 12. Jahrhundert war das, als Klein Wesenberg noch eine slawische Siedlung war.

Pilgern, die einen besonderen Ort für die innere Einkehr oder das Gebet suchen, schließt Erhard Graf die 1882 erbaute Kirche auf und erzählt bei Interesse etwas über ihre Geschichte. Wie sich der weitere Kontakt gestaltet, hänge von den Pilgern ab, die „sehr unterschiedliche Charaktere“ seien. Graf: „Manche sind sehr verschlossen. Andere schütten einem gleich ihr Herz aus.“

Ein Pilger heute, das sagt Erhard Graf auch, habe wenig mit einem Pilger im Mittelalter zu tun. „Damals konnten sich nur Adlige und Kaufleute so eine Reise leisten. Das waren die Einzigen, die sich überhaupt frei bewegen durften.“ Gepilgert seien oft Menschen, die „sündhaftes Verhalten wieder gutmachen wollten“. Dass ein mittelalterlicher Pilger die Via Baltica gelaufen ist, sei „historisch nicht belegt“. Graf: „Man hat vor einigen Jahren eben entschieden, dass Norddeutschland einen Zubringer zum Jakobsweg haben soll.“

Der Beliebtheit der Route scheint das keinen Abbruch zu tun. Kerstin Gethmann zieht die Strecke sogar dem Original in Spanien vor: „Mich stößt der Hype um den Jakobsweg ein bisschen ab. Das ist für manche ja schon ein Statussymbol, einmal dort gewesen zu sein.“ Auf der Via Baltica hingegen habe sie ihre Ruhe. Allzu populär muss er ihrer Meinung nach gar nicht werden – der Stormarner Jakobsweg.