Bank-Geheimnis: In unser Serie treffen wir Stormarner auf ihrer Lieblingsbank. Heute: Hobby-Historiker Heinz Juhre

Glinde. Am schönsten findet Heinz Juhre die „gelaufenen“ Ansichtskarten. Die benutzten also, die frankiert und abgestempelt sind und kurze Texte enthalten. So wie die Mitteilung mit längst abgelaufenem Haltbarkeitsdatum, dass der Empfänger beim Absender vorbeikommen möge, um die inzwischen reifen Zwetschgen zu pflücken. Die Info ist schon einige Jahrzehnte alt, die Tinte verblasst, der Empfänger lange tot. Die Botschaft aus der Vergangenheit war nicht an Heinz Juhre gerichtet, doch er ist der richtige Adressat, denn er versteht es, die auf den ersten Blick profanen Fotos der Ansichtskarten so zu lesen, dass deren historischer Wert erkennbar wird.

Heinz Juhre ist ein Mann mit vielen Hobbys. Seine größte Leidenschaft ist das Sammeln. Eine andere Passion ist die Heimatkunde. Beides ergänzt sich in seinem Leben perfekt, denn vorzugsweise sammelt er Materialien, die nicht nur eine Geschichte haben, sondern Geschichte sind.

Juhre arbeitete als Verwaltungsbeamter im gehobenen Dienst an der Uni Hamburg. Nebenbei saß er als SPD-Politiker in der Glinder Gemeindevertretung, später in der Stadtvertretung und „in fast allen Ausschüssen“. Außerdem war er Schöffe am Landgericht und Mitglied im Prüfungsausschuss für Wehrdienstverweigerer. Vor 14 Jahren wurde er vorzeitig pensioniert. „Heute würde man von Burn-out sprechen, damals wurde es Überarbeitung genannt – tatsächlich fühlte ich mich ausgebrannt“, erzählt Juhre, der sich als Menschen beschreibt, der schlecht Nein sagen kann.

An diese Konstante in seinem Leben hat er längst wieder angeknüpft. Mit einem großen Unterschied: Er ist kein Getriebener mehr, sondern macht das, was ihm Spaß bereitet, nicht zuletzt weil er einen tieferen Sinn darin sieht. Juhre ist Geschäftsführer des Fördervereins der Südstormarnschen Kreisbahn, er leitet die Arbeitsgemeinschaft Ortsgeschichte im Heimat- und Bürgerverein Glinde, er schreibt Beiträge für Bücher zur Heimatgeschichte, hält Vorträge zu historischen Fotos, und er gestaltet Ausstellungen – Anfang dieses Jahres war er an der Schau „Kurbelwellen aus Glinde“ beteiligt, in der dokumentiert wurde, wie eng der Aufstieg Glindes mit der Rüstungsindustrie der Nationalsozialisten verknüpft war.

80.000 Negativen wollen sortiert und zugeordnet werden

Nicht zu vergessen, dass Heinz Juhre auch „außer Haus“ tätig ist. Seit einigen Jahren sichtet er einen Tag in der Woche im Archiv des Bergedorfer Schlosses den gewaltigen Nachlass von Egon Klebe. 80.000 Negative hat der Fotoreporter hinterlassen, die gescannt, ausgedruckt, beschriftet und sortiert werden müssen. Etwa drei Viertel des dokumentarischen Schatzes wurden von Juhre und anderen Ehrenamtlichen bereits „gehoben“, also durch sorgfältige Recherche und Zuordnung für Interessierte nutzbar gemacht. Etwa 850 davon konnte Juhre als Glinder Motive identifizieren.

Die Bildanalyse und -zuordnung ist eine quasi detektivische Arbeit, von der Juhre nicht genug bekommen kann. Deshalb setzt er sie zu Hause gern fort. Gerade hat er den fotografischen Nachlass eines enthusiastischen Amateurs erworben – einen Ordner mit zahlreichen Negativen von Aufnahmen aus Glinde und Umgebung, die in den 50er- und 60er-Jahren entstanden sind. Aus dem Stegreif demonstriert Juhre, wie sich aus einem Foto, das wie ein Schnappschuss mit Zeitkolorit wirkt, solide Informationen herauslesen lassen, indem Indizien gesammelt werden.

Der Preistisch einer Tombola beim Glinder Siedlerfest zeigt Juhre, „was im Sommer 1957 gebraucht wurde: Saatgut, ein Rechen, die ersten Perlonstrümpfe, eine Klobrille“. Besonders wertvoll ist ein Zettel, der in der digitalen Vergrößerung die Sachspender auflistet: „Sie können davon ausgehen, dass hier der gesamte Glinder Geschäftsbestand von damals abgebildet ist.“ Andere Fotos aus dem Nachlass zeigen Impressionen eines Hamburg-Besuchs im Frühjahr 1957. Details erleichtern die Datierung: ein Teil der Ost-West-Straße, der noch im Bau war; oder die Pamir im Trockendock bei Blohm + Voss – „am 21. September 1957 ist sie gesunken.“

Juhre braucht für seine Vorträge kein Konzept, Fotos reichen aus: „Es erzählt sich wie von selbst“, sagt er. „Letztens hatte ich 60 Bilder dabei, eine Minute pro Foto kalkuliert, aber am Ende nur die Hälfte geschafft, weil es so viel Stoff gab.“ Gern spricht Juhre vor Schülern: „Es ist wichtig, dass junge Menschen verstehen, wie die Stadt entstanden ist, in der sie leben. Woher Namen wie ‚Alte Wache‘ oder das ‚Negerdorf‘ stammen, wofür das Heereszeugamt und das Kurbelwellenwerk gebaut wurden und dass sich am Wiesenfeld früher ein Lager für Zwangsarbeiter befand.“ Heimatgeschichte, richtig verstanden, enthält auch Weltgeschichte.

Eines von Juhres Lieblingsthemen ist die Südstormarnsche Kreisbahn. Aufs Stichwort zeigt er ein paar frische Fotos. „Heute wurde ich kurz vor sieben telefonisch geweckt. Ein Freund sagte mir, dass eine 218er aus Tiefstack auf der Strecke steht.“ Für den Laien eine Nachricht, bei der er sofort wieder in den Schlummermodus wechseln würde – für Juhre ein dringender Weckruf. Die Fotos von der Diesellokomotive – stehend, fahrend, in einer bestimmten Kurve – sind der Beweis dafür, dass er hellwach war. „So eine Lok ist selten auf der Strecke, normalerweise ist hier nur eine Gravita aus Kiel unterwegs.“

Sein Herz hängt an Glinde – obwohl die Stadt keine Schönheit ist

Dass die 1907 eingeweihte Kreisbahn zwischen Tiefstack und Trittau zum Teil immer noch in Betrieb ist, betrachtet er als Glücksfall. „Die Firma Koops in Glinde hat Anfang dieses Jahres die Gleisanlagen von Grund auf sanieren lassen. Wer so etwas macht, der investiert in die nächsten 15, 20 Jahre“, sagt Juhre, der stolz darauf ist, dass er 1978 mitgeholfen hat, auch ein anderes Stück Glinde zu erhalten. Als das Gutshaus und die Remise neuen Wohnhäusern weichen sollten, engagierte er sich mit Erfolg gegen den Abriss. Für seinen vielfältigen Einsatz als ehrenamtlicher Historiker wurde Heinz Juhre im März von seiner Heimatstadt mit der Glinder Ehrennadel in Gold für sein Lebenswerk ausgezeichnet.

Er weiß, dass er in einer Stadt lebt, die keine Schönheit ist. Der gebürtige Glinder ist auch überzeugter Glinder. „Da steckt mein Herzblut drin. Ich bin hier aufgewachsen, habe hier geheiratet, unsere beiden Kinder sind hier groß geworden.“ Dass Heimat auch verlorengehen kann, hat seine Frau erlebt: „Sie stammt aus Altenwerder. Da stehen jetzt nur noch Krananlagen.“

Juhre betont, dass neben all seinen Aktivitäten genug Zeit für die Ehefrau bleibe. Außerdem verbinde beide das Sammeln – unübersehbar auf Ablagen, in Vitrinen und Regalen. Sie hat eine Vorliebe für Paperweights, er sammelt (unter anderem) auch alte Bierflaschen, -gläser und -deckel, Comics, Werbebeigaben wie Blechautos von Haribo. Gemeinsames Objekt der Begierde waren kleinere Objekte aus dem Hause Steiff, aber „irgendwann war das Maß voll“, so Juhre. Die beiden besuchen immer noch Flohmärkte in der Nähe, und er trifft sich regelmäßig mit Sammlerfreunden, doch die obsessiven Zeiten mit frühmorgendlichen Fahrten zu Märkten in der Ferne sind längst passé.

Die Versuchung ist geblieben. „Ich sehe immer noch Sachen, die ich haben wollte oder früher besessen habe. Dinge, in denen die Vergangenheit zu mir spricht“, sagt Juhre und gibt eine Sammlerweisheit preis: „Die schlimmsten Feinde der Sammler sind Eltern, die aufräumen, und jüngere Geschwister, die alles kaputt kriegen.“ Das ist dann wohl eher Teil der eigenen Geschichte.