Festival-Konzert im Ahrensburger Marstall fordert Künstler und Zuhörer extrem. Doch es kam noch heftiger

Ahrensburg. Sich hübsch anziehen. Ein Gläschen Sekt vorweg trinken. Und dann Kultur genießen. Das übliche Verfahren. Genau das funktionierte beim Konzert des Schleswig-Holstein Musik Festivals im Ahrensburger Marstall nicht. Es ging darum, Haltung zu bewahren und vor allem Haltung zu zeigen – angesichts einer Musik, die in ihrer Absolutheit, ihrer Vehemenz, ihrer fast brutalen Emotionalität und zum Schluss auch noch mit ihrer politischen Note wie eine Provokation wirkte.

Das fing schon bei Beethoven an. Er ist immer gut für Kontroversen und fordert klare Bekenntnisse. Für die einen ist er der Titan der deutschen Klassik. Genial. Unerreicht. Anderen gehen die monumentalen Klänge, die insistierenden Wiederholungen des deutschen Meisters und die ins Klavier gehämmerten Akkorde auf die Nerven. Igor Levit ließ es mit Beethovens Sonate in F-Dur gemäßigt angehen, bis er die Hände konzentrationsfördernd wie zum Gebet faltete und dann zum Angriff überging. Es galt die wohl berühmteste Klavierkomposition von Beethoven zu bezwingen und zum Blühen zu bringen: die f-Moll-Sonate op. 57, die sogenannte „Appassionata“ – die Leidenschaftliche.

Die Augen des Pianisten kündeten von Todesverachtung und Begeisterung

Das Publikum hörte nicht nur, wie sie klingt. Es sah auch, was der Titel verspricht. Mit bewegter Gestik und sprechender Mimik ging der Pianist ans Werk und machte die Entstehung der Klänge und die Leidenschaft sichtbar. Pianissimo und Fortissimo lösten sich ab. Das Klavier säuselte und dröhnte. Der Pianist stürzte sich ins Werk, verschwand fast hinter den Tasten, so tief kniete er sich ins Werk, tauchte wieder auf und ließ die Finger wie Pfeile niedersausen – mit Augen, die von Todesverachtung und Begeisterung kündeten. Du oder ich schien der Künstler zu sagen und entfernte sich beim letzten Ton schlagartig vom Klavier, als müsse er fürchten, es würde doch noch einmal zurückschlagen.

„Ich hätte gern noch mehr Beethoven gehört“, sagte eine junge Frau zu ihrer Begleiterin, als sie sich in der Pause ein Mineralwasser zur Abkühlung einschenkten. .„Ganz schön. Aber irgendwie doch ein bisschen übertrieben“, sagte dagegen ein Herr um die 70, der sich fast ein bisschen lustig machte über die Heftigkeit des Interpreten.

Beethoven erzwang Haltung, wie immer. Aber dass er wie kein Zweiter deutsches Kulturgut repräsentiert, daran gab es keinen Zweifel. Auch nicht, dass der Tastendompteur geglänzt und gewonnen hatte. Aber all das war erst der Anfang. Es sollte noch heftiger kommen. Nach der Pause. Beethoven war der Bonbon, um danach Herberes anbieten zu können. Wer für den Titan der Klassik gekommen war, saß in der Falle. Zunächst. Das Blatt wendete sich.

„Nimmt das denn gar kein Ende“, schien ein Frau zu sagen, die mehr als einmal auf die Uhr guckte. Eine Stunde galt es zu überstehen. So hatte es Igor Levit zu Beginn des zweiten Programmteils angekündigt. Für ihn sei das folgende Stück von Frederic Rzewski bedeutsame Musik. „Weil es nicht eine Haltung erwartet, sondern erzwingt.“ Und genau so war es. Publikum und Pianist kämpften. Mit sich, mit den Werken, gegeneinander – und dann plötzlich auch miteinander. Für eine gemeinsame Sache, die in diesem Moment wohl noch keiner so recht in Worte hätte fassen können. Am Schluss gab es kein Halten mehr. Vollkommen verausgabt schleuderte Igor Levit den letzten Klavierakkord in den Raum und sprang auf – und mit ihm der ganze Saal. Standing Ovations hat der Marstall noch nicht oft erlebt. Und schon gar nicht für zeitgenössische Musik eines Komponisten, dessen Namen vorher nur die wenigsten gekannt haben dürften.

„The People United Will Never Be Defeated“ heißt das Stück des 1938 geborenen amerikanischen Komponisten Rzewski, das Igor Levit für den Abend ausgesucht hatte. „Menschen, die zusammenhalten, werden nie besiegt.“ Der Funke dieser politischen Botschaft sprang über.

Der Blick auf die Uhr war vergessen. Und die Dame, die das ganze Stück mit Kopfschütteln und verächtlichem, leisem Auflachen begleitet hatte, war nun erzürnt, weil sie angesichts der aufgesprungenen Menge den Künstler nicht mehr sehen und sie ihm ihren Tribut nicht angemessen zollen konnte.

Bravo-Rufe, Pfiffe und Fußgetrampel holten Igor Levit auf die Bühne zurück

In 38 Variationen hat der Marxist Rzewski das Lied „El pueblo unido“ – „Das vereinte Volk“ – vertont. Es stammt aus dem chilenischen Präsidentschaftswahlkampf 1970, der Allende ins Amt brachte. Nach dem Putsch wurde das Lied zum Symbol des Widerstands gegen Diktator Pinochet. Levit ließ die Musik sprechen, die Rzewski zum 200. Jahrestag der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten geschrieben hat: Die Freude bei Allendes Aufstieg, das Anklopfen des verhängnisvollen Schicksals, der Kampf, die Todesstille und die wieder aufkeimende Hoffnung auf Demokratie – all das war zu hören.

Bravo-Rufe, Pfiffe und Fußgetrampel holten Igor Levit mit frenetischem Applaus auf die Bühne zurück, der sekundenlang in tiefer Verbeugung verharrte. Eine Zugabe wäre deplatziert gewesen. Es war alles gesagt. Mehr als das. Es war etwas passiert: Mit Kraft und Leidenschaft an die eigenen Grenzen gegangen, hatte der Pianist auch das Publikum gefordert, über sich und seine Hörgewohnheiten hinauszugehen und Haltung zu zeigen.

„Es war eine Herausforderung für Publikum und Pianist, sagte die Ahrensburgerin Karin Voß. „Der Beethoven war so voller Leben. Und auch das moderne Stück war grandios. Der Besuch hat sich gelohnt.“

„Igor Levit ist mir schon vor zwei Jahren aufgefallen“, sagte Anne von der Heydt. „Dieses kraftvolle Spiel. Er hatte das Publikum gleich im Griff.“ Die Oldesloer Klavierlehrerin hatte sich auch schon mit dem Stück von Rzewski beschäftigt. Beethoven habe perfekt dazu gepasst. Dieselbe musikalische Sprache. „Man hat beim Spiel immer die Pranke des Komponisten im Nacken.“

Der Ausklang des Abends war dissonant. Es gab einen Empfang. Die Presse wurde ausgeladen. Kein Interview, keine Fotos. Diese unverständliche Geschichte wurde direkt, ohne Noten erzählt. Applaus gab es dafür nicht.