Staat und Bürger werden sich Verantwortung teilen: Prof. Horst Opaschowski kommt nach Reinbek

Reinbek. Er prägte den Begriff Freizeitstress und prognostizierte schon 1999, dass das Internet als weltweites Spionage-Instrument des amerikanischen Verteidigungsministeriums außer Kontrolle geraten werde: Prof. Horst Opaschowski. Seit 30 Jahren beschäftigt sich der Freizeit- und Zukunftsforscher mit der Entwicklung in Deutschland. Im Gespräch mit dem Hamburger Abendblatt sagt er einen neuen Generationenpakt und die Mitmach-Gesellschaft voraus.

Hamburger Abendblatt:

In die Zukunft sehen. Ist das nicht Kaffeesatzleserei?

Horst Opaschowski:

Nein (lacht). Ein Zukunftsforscher schaut nicht in die Glaskugel. Und er sagt auch nicht die Zukunft im Detail voraus. Mein Anliegen ist es, die Gesellschaft gut auf die Zukunft, auf die nächsten 15 bis 20 Jahre vorzubereiten. Und zwar auf Basis repräsentativer Erhebungen.

Und was kommt auf die Bürger zu?

Opaschowski:

Nichts weniger, als dass sie ihre eigene Zukunft sichern müssen. Denn die Finanzierung der Renten und Pensionen ist ungewiss. Weil keine Rücklagen gebildet werden können, werden die Renten mit dem Geld bezahlt, das die Leute heute einzahlen. Es drohen massive Rentenkürzungen. Ich habe als Hochschullehrer an der Universität Hamburg erlebt, wie der Senat Kredite aufnehmen musste, um das Weihnachtsgeld zu finanzieren.

Und die Staatsschulden erhöhen sich jede Sekunde um rund 1500 Euro.

Opaschowski:

Wenn Sie das Horrorszenario zu Ende denken, landen wir beim Grundeinkommen. Ich nenne es Minimex: minimales Existenzgeld. Das habe ich schon vor einigen Jahren beschrieben. In 20 Jahren trifft es vermutlich den Kern. Zukunftsforscher sind oft Zu-früh-Melder. Das ändert aber nichts daran, dass sie eine Bringeschuld haben und die Politik eine Annahmepflicht, der sie leider oft nicht nachkommt.

Welchen Ausweg sehen Sie?

Opaschowski:

Ich sehe einen großen Hoffnungsschimmer – und das ist die Generationenfamilie. Die Generationenbeziehungen werden wichtiger als die Partnerbeziehungen. Sie weisen ein höheres Maß an Stabilität auf. Sie geben Sicherheit. Ich kann nachweisen, dass die Alten für die Jungen sparen.

Aber gerade bei der Rentendiskussion geht es um den Generationenkonflikt.

Opaschowski:

Der Generationenkrieg findet überhaupt nicht statt. Das ist eine Legende. Die Alten stützen die Jungen. Ich kann nachweisen, dass Eltern über 65 Jahre siebenmal so viel Geld an ihre erwachsenen Kinder zahlen, als sie je von denen zurückerhalten. Es wird ein neuer Generationenpakt auf familiärer Basis entstehen, unabhängig vom gesetzlichen Generationenvertrag, auf den kein Verlass mehr ist.

Werden die Menschen also noch länger arbeiten müssen? Die Rente mit 70?

Opaschowski:

1974, vor genau 40 Jahren habe ich bereits die Flexi-Rente gefordett. Die Menschen wollen ihren Lebensstandard halten, ihren Alterskonsum finanzieren. Aber genauso wichtig: Sie wollen gesellschaftlich wichtig bleiben und gebraucht werden. Und das geht nur über eine flexible Altersgrenze im Alter zwischen 60 und 70. Wer früher aussteigen will, muss mit Abschlägen rechnen. Wer aber länger arbeitet, kann zeitlebens seine Rente aufbessern. Wer ein Jahr länger arbeitet, bekommt zeitlebens sechs Prozent mehr Rente. Wer zwei Jahre länger arbeitet, zwölf Prozent.

Wenn die Menschen ihren Ruhestand erleben! Das Tempo hat sich verschärft. Viele macht der Beruf krank. Burn-out-Syndrome und Depressionen nehmen zu.

Opaschowski:

Die Anforderungen nehmen zu, die Überforderungen auch. Zusätzlich kommt die Angst um die eigene Zukunft dazu. Bei der Gesundheitsvorsorge ist es besonders eklatant. Viele können sich nicht mal neue Zähne leisten. Sie müssen sich das von Eltern oder Großeltern bezahlen lassen. Umgekehrt kommt es so weit, dass man sich eine neue Hüfte zum Geburtstag wünscht. Der Generationenpakt als Ausweg.

Worauf läuft das hinaus?

Opaschowski:

Wenn wir nicht gegensteuern, kommt eine Südamerikanisierung der Verhältnisse. Die Zweiklassengesellschaft, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, wird zu sozialem Unfrieden führen. Dann kracht es. Ein kleiner Funke – und es kommt zu gewalttätigen Ausschreitungen. Das haben wir schon in vielen Ländern gesehen. Das kann auch bei uns passieren.

Wie ist das zu verhindern?

Opaschowski:

Indem wir uns zu einer Mitmach-Gesellschaft entwickeln. Man könnte auch Bürger- oder Zivilgesellschaft sagen, in der sich Staat und Bürger die Verantwortung teilen.

Eine positive Vision.

Opaschowski:

Eine neue Generation V entsteht. Es geht um Vertrauen, Verlässlichkeit und Verantwortung. All das, was im Moment im Verhältnis zu den Amerikanern fehlt. Die USA könnten austauschbar werden. Es gibt auch Interesse an China. Bündnispartner können wechseln – Familienstrukturen sind auf Lebenszeit angelegt. Die Renaissance des privaten Zusammenhalts geht auch auf den 11. September zurück. Nach dem Terroranschlag rückten die Fragen in den Mittelpunkt: Was ist noch wirklich sicher? Auf wen ist Verlass?

Die Bürger werden die Gestaltung der Gesellschaft mehr in die Hand nehmen?

Opaschowski:

Ja. Nicht nur Experten und Journalisten klopfen der Regierung künftig auf die Finger. Die Bürger werden das selbst machen. Das wird zu einer teilweisen Entmachtung von Institutionen führen. Beim Zukunftskongress, den ich in Berlin initiiert habe, sagte die Kanzlerin sinngemäß: Mein Albtraum ist, wenn es eines Tages keine Institutionen oder Parteien mehr gibt. Aber ich glaube, die Macht der Parteien muss zurückgedrängt werden. Es ist ein Armutszeugnis, wenn 80 Prozent der Deutschen sagen, die Parteien denken mehr an den Machterhalt als an das Wohlergehen der Bevölkerung. Wachsende Unzufriedenheit führt zu Politik- und Wahlverdrossenheit.

Sehen die Deutschen trotz aller Probleme hoffnungsvoll in die Zukunft?

Opaschowski:

Ich habe mit 16.000 Befragten einen Wohlstandsindex für Deutschland ermittelt. Was die Frage des friedlichen Zusammenlebens und der persönlichen Freiheiten angeht, besteht zwischen Wunsch und Wirklichkeit weitgehende Deckungsgleichheit. Aber wenn es um die Ökonomie geht, bricht das Gebäude zusammen. Dennoch gibt es ein Umdenken. Viele setzen nicht mehr auf Wachstum, Wachstum, Wachstum. Da spielt auch der Umweltgedanke hinein. Statt Wohlstand rückt das persönliche und soziale Wohlergehen in den Vordergrund.

Wo liegen die Deutschen auf dem Wohlstandsindex zwischen Null und 100?

Opaschowski:

Bei 60. Deutschland geht es gut. Auch wenn sich die Menschen Sorgen über ihre nahe Zukunft machen. 100 auf der Skala wäre ohnehin nicht wünschenswert. Unzufriedenheit ist auch eine Triebkraft – für Initiativen, und Volksbegehren. Ich sehe diese Entwicklung positiv. Im Grundgesetz heißt es: Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung mit. Sie sollen gar nicht allein die Politik machen.

Sehen Sie für sich positiv nach vorn?

Opaschowski:

Mein Leitbild ist der spanische Cellist Pablo Casals. Er wurde im Alter von 92 Jahren gefragt, warum er immer noch täglich übe. Er sagte: Ich glaube, ich mache Fortschritte.

Alles Gute für die Zukunft.

Am Mittwoch, 16. Juli, kommt Prof. Horst Opaschowski ins Reinbeker Schloss. Er ist Referent in der Reihe „Reinbeker Kamingespräche“. Moderation: Rudolf Zahn. Der Eintritt ist frei.