Zahl der Abhängigen, die ins Heinrich-Sengelmann-Krankenhaus kommen, steigt. Tageseinrichtung schließt eine Lücke

Bargfeld-Stegen. Wer bei Uwe Siegmund anruft oder plötzlich vor der Tür steht, ist in Not. „Wir sind hier eine Intensivstation“, sagt der 51-Jährige. „Viele denken immer noch, dass sich die Betroffenen mit Willkür in die Situation gebracht haben. Aber Sucht ist eine Krankheit.“ Uwe Siegmund ärgert sich über die Unkenntnis. Er sieht die Schicksale tagtäglich. Seit 19 Jahren leitet er im Heinrich-Sengelmann-Krankenhaus (HSK) in Bargfeld-Stegen die Station Bella Vista. Schöne Aussicht heißt das. Genau die fehlt denjenigen, die zu ihm kommen. Aber es fehlen auch Plätze, denn die Nachfrage steigt.

„Wir haben Wartezeiten von bis zu zwei Wochen“, sagt Uwe Siegmund. Dabei ist dringende Hilfe geboten. Die Menschen, die zu ihm kommen, sind süchtig nach Heroin. Sie rauchen Cannabis, nehmen Alkohol und Tabletten. Sie koksen. Und in der Regel alles zusammen. „Polytoxomanie“ heißt der Fachbegriff. Mehrfachvergiftung.

Eine steile Abwärtskarriere liegt hinter den Menschen, bevor sie sich melden. Umso wichtiger ist, dass sie es sich nicht anders überlegen, weil sie auf den Entzug warten müssen. Aber die Kapazitäten reichen oft nicht aus.

Die Station Bella Vista verfügt über 22 Betten. Wer von legalen Drogen wie Alkohol oder Tabletten abhängig ist, kommt auf die benachbarte Station. Sie verfügt über 26 Betten. Suchtkranke, die zugleich stark psychisch erkrankt sind, werden auf der Station M versorgt. Hier gibt es 24 Betten. Zusammen sind das 70 stationäre Plätze. Selbst das reicht nicht. „Aber wir schicken weder die hochschwangere Frau noch den Suizidgefährdeten weg“, sagt Siegmund mit Nachdruck. „Wer sich in akuter Gefahr befindet, wird aufgenommen.“ Notbetten machen das möglich.

Was für den Suchtbereich gilt, gilt für das psychiatrische Heinrich-Sengelmann-Krankenhaus insgesamt. „Im Schnitt gibt es Wartezeiten von vier, manchmal sechs Wochen“, sagt der leitende Oberarzt und stellvertretende Klinikdirektor Dr. Peter Hans Hauptmann. Auf einen Therapieplatz warten die Menschen manchmal noch länger.

So lässt das HSK zurzeit in Bargteheide die dritte psychiatrische Tagesklinik in Stormarn bauen. Sie wird sich verstärkt um Suchtkranke kümmern. Dr. Hauptmann: „Wir wollen auf jeden Fall für die Zeit nach der Entgiftung einen Therapieplatz sicherstellen.“ Nur so sei die Arbeit in der Klinik sinnvoll. Aber fehlende Therapieplätze und die Frage der Kostenübernahme durch die Kassen sorgten nach wie vor für Löcher in der Versorgungskette.

Wie stark die Nachfrage insgesamt gestiegen ist, zeigt ein Blick auf die Anfänge des Krankenhauses, das vor 50 Jahren eröffnet wurde. Am deutlichsten ist die Entwicklung an der Verweildauer abzulesen. „Heute beträgt sie im Schnitt vier Wochen“, sagt Pflegedienstleiter Horst Kufeld. „Damals waren es 365 Tage. Ein Jahr.“ Angesichts der rund 4000 Patienten, die jetzt jährlich behandelt werden, ein unvorstellbares Szenario. „Damals hat man eben die ‚Irren‘ weggesperrt“, sagt Uwe Siegmund. Dass sie weit ab untergebracht wurden, sei heute allerdings ein Vorteil. Siegmund: „Drogenabhängige sind froh, raus zu sein aus der Szene und hier die Ruhe genießen zu können.“

Aber bis sie dort landen, dauert es Jahre. Manchmal ein halbes Leben. Der Familienvater kommt ebenso wie die Prostituierte oder die obdachlose ältere Frau. Siegmund: „Sie sind rauskatapultiert aus der Gesellschaft.“ Keine Arbeit, keine Familien, keine Wohnung. Ein schleichender Prozess.

Den Schritt aus dem Teufelskreis zu tun, erfordert Mut. „Drogenabhängige sind voller Angst“, sagt Uwe Siegmund, der sich als Fachkraft und Pfleger für Neurologie und Psychotherapie mit einem rund 20-köpfigen Team um seine Patienten kümmert. So viel Angst, dass Heroinsüchtige, die von unsauberen Spritzen einen Abszess haben, sich nicht in eine Klinik trauen. Schon gar nicht in eine psychiatrische. Unkenntnis auf beiden Seiten. Siegmund: „Betroffene denken: Bist du in der Klapse, kommst du nicht wieder raus.“

Die Wirklichkeit sieht anders aus: qualifizierter, niedrigschwelliger Entzug. Die Suchtkranken erhalten Ersatzstoffe wie Methadon und andere Präparate, die langsam reduziert werden. Siegmund: „Hier liegt niemand rum und krampft.“ Stattdessen gibt es Akupunktur, Tai-Chi, Garten- Sport und Musiktherapie, Einzel- und Gruppengespräche und Sozialarbeiter und Schuldnerberater, die sich um die Wiedereingliederung kümmern. Dass die Patienten dennoch manchmal weinen, ist ein Zeichen der Heilung. Siegmund: „Sie empfinden Schmerz. Sie können sich endlich wieder fühlen.“

Uwe Siegmund und seine Kollegin Susanne Dehme vertreten das HSK bei den Suchttherapietagen auf dem Gelände der Hamburger Universität (Von-Melle-Park 8 und Allende-Platz 1). Sie beginnen am heutigen Dienstag, dauern bis Freitag, 13. Juni, und stehen Ärzten, Beratungsstellen, Betroffenen und Angehörigen offen.