Er lebt allein in einer Wohnung mit schwarzen Wänden: Axel Brauns. Ein Interview mit dem Hamburger Filmemacher und Autor, der in Glinde aus seinem autobiografischen Buch „Buntschatten und Fledermäuse“ lesen wird, ist eine Begegnung. Verwirrend präzise und humorvolle Antworten geben Einblick in ein rätselhaftes Leben. Abendblatt-Redakteurin Martina Tabel hat mit Axel Brauns gesprochen – ein Aufeinandertreffen zweier Gedankenwelten.

A wie anders.

Den Telefonhörer nehmen, Termin vereinbaren, fertig. Diesmal nicht. Berührungsängste kommen hoch. Lieber den Veranstalter einschalten. Soll der den Kontakt zu Axel Brauns herstellen. Schon am nächsten Tag kommt eine E-Mail. Ein Autist hat mir geschrieben! Wir werden uns treffen. Die Berührungsangst weicht einem Glücksgefühl.

Sehr geehrte Frau Tabel, ein Interview? Gern! Melden Sie sich einfach. Da ich nicht davon ausgehe, dass Sie viel über mich wissen, lege ich eine Vita, eine Besprechung meines Buches „Buntschatten und Fledermäuse“ und eine Besprechung eines Dokfilms bei.

Schnell antworten. Den Kontakt nicht abreißen lassen. Am besten mehrere Termine vorschlagen, um den Unbekannten nicht zu sehr zu bedrängen.

Hallo Frau Tabel, für ein Treffen ist bei mir die Zeit leider zu knapp. Das klappt nicht. Doch ich könnte mir Zeit für ein Telefonat nehmen.

Ein Telefonat? Nach Berührungsängsten und Freude jetzt Enttäuschung. Ich würde ihm nicht gegenübersitzen und ihn nicht anschauen können? Ich lasse nicht locker und schlage vor, uns in der Redaktion zu treffen. Hoffentlich reagiert er nicht verärgert.

I wo, ich bin nicht böse. Nur leider wird meine Zeit nicht mehr. Und die erste Frage haben Sie ja schon entdeckt: Wie lernt ein Autist eigentlich Menschen kennen? Sicher ganz anders als Sie! Denn Sie nehmen Menschen nicht als Dinge wahr. In der Redaktion treffen? O nee, das wäre gruselig! Das sind ja völlig unbekannte Räume. Ich hoffe nun, dass Sie nicht traurig sind ....

U wie unbekannt.

Ich bin beschämt. Wie konnte ich nur auf die Idee kommen, in das Reich eines Autisten einfach so hineinspazieren zu wollen oder ihn forsch in meine Welt zu ziehen? Ich merke, ich weiß nichts. Ich nehme Tempo raus und freue mich jetzt auf das Telefongespräch. Das ist kein Abspeisen. Das ist für Axel Brauns eine Riesenanstrengung. Zwei Tage später rufe ich ihn an. Eine hohe, angenehme Stimme erklingt.

Ich sitze ganz bequem. Und Sie sind jetzt meine allerbeste Freundin. Seit 25 Jahren. Wir sind nicht verfremdet durch einen komplett fremden Raum. Das kann ich heute klar ausdrücken. Denn das war der zentrale künstlerische Kampf mit dem Werk „Buntschatten und Fledermäuse“, in dem ich die ersten zwei Jahrzehnte meines Lebens schildere. Ich habe damals Autobiografien von anderen Autisten gelesen und das Gefühl gehabt, dass die etwas einschleppen, das in der autistischen Welt gar nicht vorhanden ist: Menschen. Für mich sind Menschen immer noch Dinge. Ich weiß, das ist etwas Verbotenes. Aber das ist der Kern meines Erlebens…

Bin ich auch ein Gegenstand?

Nein. Sie sind ein Mensch. Das habe ich mir vorgenommen. Und das geht auch über die Stimme. Wie die Musik, die ein anderes Areal erreicht.

Axel Brauns spricht schnell, wie ein freundlicher Professor. Ohne Pause. Ich würde gern unterbrechen. Aber ich traue mich nicht. Dann nutze ich eine Atempause. Kann er sich denn mein Gesicht vorstellen?

Ich habe gegoogelt und eine Frau Tabel mit weißen Haaren entdeckt. Ich bin aber auch so schon sehr gut darin geworden, Gesichter zu erkennen. Vielleicht habe ich als Filmemacher aber auch gelernt, etwas zu übersetzen. Es kann sein, dass ich eine akrobatische Nummer im Gehirn aufführe.

T wie Trottel.

Während ich Axel Brauns zuhöre, denke ich darüber nach, was eigentlich das richtige Wort für ihn ist. Krank? Behindert?

Ich bin ein Trottel. So nenne ich das. Es gibt sprachkritische Untersuchungen, die auf Diskriminierungen hinweisen. Ich habe mich mit Gender-Studies befasst und damit, was Afro-Deutsche sagen. Aber es ist etwas anderes, wenn man als denkende Missgeburt die Welt betrachtet. Der Bruch ist extrem. Ein Autist in der Schule ist das, worauf sich alle einigen können, wenn man jemanden mobben möchte.

Ich könnte niemals Trottel sagen.

Tun Sie das gern. Sie benutzen es ja nicht als Schimpfwort. Ich mache Lehrerfortbildungen. Und die Lehrer erheitert es, wenn ein Autist von sich als Trottel spricht. Anfang der 80er-Jahre gab es die Krüppel-Bewegung. Ich dachte, ich greif mal beim Wort Trottel zu. Das klingt hübsch.

Das ist besser als krank?

Krank ist es ja nicht. Es ist es eine frühkindliche Entwicklungsstörung. Die Asperger-Autisten haben keine Sprachstörung. Deswegen steht bei mir auch immer Asperger-Autist. Aber das ist eben falsch. Ich gehöre eigentlich zu den schweren Fällen, stelle aber heute einen ganz leichten Fall dar. Dafür hat die Diagnostik einen schönen Terminus geprägt: Ich bin ein Autist auf hohem Funktionsniveau. Wenn Sie den Begriff als krank empfinden, dann haben wir schon mal eine Gemeinsamkeit.

Ich muss lachen. Und der Mann am anderen Ende lacht auch.

I wie isoliert.

Axel Brauns ist charmant. Was weiß er von der Liebe?

Ich habe mir den Film „Sinn und Sinnlichkeit“angesehen. Es war für mich wie ein Vortrag über das Periodensystem der Elemente im Chemie-Unterricht. Aber neben mir saß eine Frau, die weinte in ihr Taschentuch. Das war für mich eine Demütigung. Ich nahm mir deswegen das Drehbuch vor. Als die beiden Liebenden sich dann doch bekamen, fühlte ich plötzlich so ein zartes, warmes Gefühl. Ich habe zwar meinen Geist massiv unter Druck setzen müssen, das schön zu finden. Aber ich konnte es fühlen.

Waren Sie auch schon mal verliebt?

Oh mein Gott. Wenn mich jetzt die Martina Tabel fragt, die eventuell schon ganz viel an Liebe erlebt hat. Ich weiß nicht, ob ich da konkurrieren kann.

Oh mein Gott. Und ich habe noch nie eine solche Antwort bekommen.

Aber ich habe schon Menschen kennengelernt, die sich in mich verliebt haben. Besonders rührend war ein Erlebnis in einem Trotteldorf, das ich auch in meinem nächsten Roman verewigen werde. Ich saß vor einer Lesung draußen auf der Bank. Da setzte sich eine junge Frau zu mir, die hatte ein Löwenzahn-Blümchen gepflückt und fragte mich: Bist Du Axel Brauns? Dann reichte sie mir das Blümchen und fragte: Wollen wir heiraten? Ich sagte: Oh, das kommt jetzt aber überraschend.

Wir lachen. Schon wieder.

S wie sonderbar.

Viele drehen sich um sich selbst oder schotten sich ab. Ich hatte Berührungsängste. Wie viel Autismus steckt in mir, in uns allen? Ist ein Autist sofort zu erkennen?

Oh, das erkennt man schon. Wenn da kein Blickkontakt ist, jemand besonders auf Sprache reagiert oder sich komisch bewegt. Auf den Zehenspitzen zu laufen, ist so ein Erkennungszeichen. Nicht mit den Fuß auftreten wollen, den Kontakt mit der ganzen Sohle ablehnen.

Warum ist das eigentlich lächerlich, wenn ein Mensch um die Balance in seinem Leben ringt, frage ich mich. Spitzentanz auf der Bühne ist eine Kunst.

T wie talentiert.

Mir fällt der Autist ein, der 20 Minuten über New York flog und die Stadtsilhouette aus dem Gedächtnis nachzeichnete. Inselbegabung, nennt sich das. Aber er ist doch auch Künstler, so wie Axel Brauns.

Ich bin nicht nur Schriftsteller, sondern auch Vortragskünstler. Das war für mich ein ganz großer Traum. Meine Mutter wurde nur traurig, als ich ihr das erzählte. Sie sagte: Axel, wenn Du vorliest, verliest Du Dich zwei Dutzend Mal. Ich habe mir das damals mit der Souveränität eines Künstlers angehört, der gerade dabei ist, reich und berühmt zu werden. Dann habe ich eine Seite laut vorgelesen und mich nur 22 Mal verlesen. Das war um 9,1 Prozent besser als meine Mutter prognostiziert hatte. Ich habe es geschafft habe, aus dieser ganz fernen Welt in die Literatur und in die Bühnenkunst zu kommen. Es geschah, weil meine Eltern einen besonderen Beruf hatten. Sie betrieben eine Kreuzwort-Redaktion. Als mein Vater starb, gab es keine Rätsel mehr. Das war die Stunde von Axel. Dass mein Vater gestorben war, hatte ich gar nicht verstanden. Für mich war er nur auf den Friedhof umgezogen. Der Weg von damals bis heute ist verdammt weit. Von dem Axel, der spürte, dass es möglich ist und der nicht müde wurde, sich alles beizubringen. Deswegen kann ich mich heute mit Ihnen unterhalten.

Nach fast genau 100 Minuten ist das Gespräch zu Ende. Ich halte den Telefonhörer noch in der Hand. So viel Nähe durch Distanz. Ich könnte schwören, Axel Brauns hat mir gegenübergesessen. Er hat Unglaubliches geleistet und mich als Menschen wahrgenommen. Die größte Leistung überhaupt, auch für einen Nicht-Trottel.

Die Lesung des Hamburgers Axel Brauns am heutigen Donnerstag im Gutshaus Glinde (Möllner Landstraße 53) beginnt um 19.30 Uhr. Eintritt: 10 Euro. Karsten Lieberam-Schmidt von der Bergedorfer Lesebühne hat den Bestsellerautoren eingeladen.