Gertrud Tammena aus Ahrensburg ist eine Staatsbürgerin wie aus dem Bilderbuch

Es ist ein Mittwoch Anfang Juli zur Mittagszeit, die Sonne brennt vom Himmel, als drei Frauen den ehemaligen Spielplatz an der Kastanienallee in Ahrensburg betreten. Sie sind schwer bepackt: Einen kleinen Tisch haben sie im Gepäck, eine Sitzbank, weißes Papier, Kugelschreiber. Und ein selbst gemaltes Plakat mit einem Baum darauf. „Keine Klinik Kastanienallee“, lautet der Text, weiter unten steht etwas von „Bürgerbegehren“. „Die Kastanienallee ist eines der letzten stadtnahen Naherholungsgebiete in Ahrensburg“, sagt eine der Frauen. Sie heißt Gertrud Tammena.

Sie ist Ahrensburgerin, Staatsbürgerin, Wählerin. Dieser Dreiklang wirkt in Verbindung mit ihrem Namen ganz selbstverständlich, auch zehn Jahre nach der Aktion an der Kastanienallee. Denn Gertrud Tammena interessiert sich für die Stadt, in der sie lebt. Sie bildet sich stets eine Meinung. Und die äußert sie auch – ruhig, unaufgeregt und ohne jemals laut zu werden, und doch unglaublich beharrlich. Mit dieser Einstellung gehört sie mittlerweile zu einer Minderheit. Genau 194.640 Stormarnerinnen und Stormarner durften bei der Kommunalwahl 2013 wählen. Doch nur 47,6 Prozent machten es.

Die Mehrheit schweigt. Gertrud Tammena, die auf Bitten der Abendblatt-Regionalausgabe Stormarn zum Auftakt dieser Serie „die Wählerin“ verkörpert, kann das nicht verstehen. „Es hilft doch nichts, nur zu meckern“, sagt sie heute. „Für das, was man einfordert, muss man auch etwas leisten.“ Und das Geringste, das jeder leisten könne, sei nun mal, für den eigenen Wohnort, im Kleinen abzustimmen.

Zwei Prinzipien ihres Großvaters haben Gertrud Tammena beeinflusst

Gertrud Tammena hat sich nie darauf beschränkt. Wie gesagt: Man muss auch etwas leisten. Im Hochsommer 2004 gelingt ihr das. Die drei Frauen benötigen 2480 Unterschriften für ihr Bürgerbegehren. Sie wollen einen Bürgerentscheid herbeiführen. Alle Wahlberechtigten in Ahrensburg sollen über den Standort einer neuen Klinik abstimmen können. Am 6. August stehen die Frauen mit 2944 Unterschriften im Büro der damaligen Bürgermeisterin Ursula Pepper. Ein großer Erfolg: Der Bürgerentscheid kann kommen. Dass es am Ende keinen geben wird, liegt daran, dass die Stadtverordneten kurz vor Weihnachten dafür stimmen, dass an der Kastanienallee zunächst gar nicht gebaut werden soll. Gertrud Tammena ist sehr zufrieden damals.

Ihr Großvater, sagt sie, habe ihr schon in ihrer frühesten Kindheit zwei Prinzipien mit auf ihren Lebensweg gegeben. Das eine lautet: „Was man versprochen hat, das muss man auch halten.“ Das andere: „Wenn du einen Apfel isst, gehört der Griebs auch dazu.“ Später, in der Schule im Geschichtsunterricht, sei ihr klar geworden, dass Schweigen und Mitläufertum großes Unheil befördern können. Sie habe schon immer viel beobachtet und das Beobachtete für sich bewertet. „Und ich bin zu dem Schluss gekommen, in meinem Leben nicht zu schweigen, sondern den Mund aufzumachen, wenn ich meine, dass etwas nicht richtig läuft“, sagt sie, inzwischen 57-jährig und selbst vierfache Großmutter.

So sei sie zu der geworden, die sie ist. Zu der, die Bäume und Grünanlagen schützen möchte, die sich für die Rechte der Flüchtlinge einsetzt, die ehrenamtlich Wahlhelferin ist. Die abends die Sitzungen der Politiker besucht, ihnen Fragen stellt, sie an ihrer Meinung teilhaben lässt. Die zur Einwohnerversammlung geht und dort Anträge formuliert. Und die, wenn es sein muss, auch mal Steine ins Rollen bringt, so wie damals im Sommer 2004.

Kennt Gertrud Tammena eigentlich alle Möglichkeiten der Einflussnahme, die ein Bürger in Schleswig-Holstein auf kommunaler Ebene hat? „Hmmm.“ Sie überlegt einen Augenblick. Dann beginnt sie, aus dem Kopf aufzuzählen: „Einwohnerversammlung. Einwohnerfragestunde, Anhörung, Einwohnerbefragung. Anregungen und Beschwerden. Einwohnerantrag. Bürgerentscheid und Bürgerbegehren.“ Mehr kennt auch die schleswig-holsteinische Gemeindeordnung nicht, in deren Paragrafen 16b und den folgenden die Mitspracherechte der Einwohner einer Kommune geregelt sind. Nicht mal fünf Prozent aller Wahlberechtigten wären zu dieser Aufzählung imstande, geschweige denn könnten sie diese Instrumente nutzen, schätzt der Kieler Jura-Professor Utz Schliesky (siehe unten).

Gertrud Tammena kennt nicht nur das Gesetz, sie kennt auch die Politiker, die über die Zukunft der Stadt diskutieren und entscheiden, und es ist ihr wichtig, sie als Menschen zu kennen: „In einer Kommune sind die Menschen wichtiger als die Parteien, denen sie angehören.“ Nach diesem Prinzip wählt sie auch.

Fünf Jahre nach dem Einsatz für die Kastanienallee beherrschte ein anderes Thema das politische Geschehen in Ahrensburg: Die Große Straße soll umgestaltet werden. Der Plan sieht vor, eine Reihe alter Linden zu fällen. Gertrud Tammena argumentiert in den politischen Gremien leidenschaftlich dagegen. Am Ende fallen die Bäume. Und Tammena ist bitter enttäuscht. Aber eine echte Demokratin muss auch Rückschläge einstecken können.

Inzwischen, sagt Gertrud Tammena, sei ihre Kraft „ein bisschen alle“. „Es kann auch sehr unbequem sein, sich zu äußern. Man gerät mitunter zwischen die Fronten und wird zerrieben.“ Das sind dann die Momente, um im Bild ihres Großvaters zu bleiben, in denen der Apfelgriebs nicht so recht schmecken mag. Insofern wird sie vielleicht ein bisschen leiser, doch hingucken und bewerten wird sie weiterhin. Und natürlich wählen. Das hat sie vor sich selbst versprochen, und das wird sie halten. Noch ein Prinzip ihres Großvaters.