28 Jahre nach Tschernobyl: Experte prüft erstmals radioaktive Strahlung. Er gibt Entwarnung

Großhansdorf. Ingo Hartung stapft durch den Beimoorwald. In seiner gelben Regenjacke ist der Pölitzer schon von Weitem sofort zu sehen. Er selbst hält Ausschau nach etwas, das nur ihm, dem Experten, sofort ins Auge fällt: Pilze. „Da“, sagt der 58-Jährige plötzlich und steuert zielsicher auf den Stumpf einer Rotbuche zu. „Trameten!“ Mit seinem Taschenmesser schneidet er die Pilze ab und packt sie in seinen Weidenkorb. Später, zu Hause in Pölitz, wird er die Funde eintüten und die Fundorte auf den Beuteln notieren.

Ingo Hartung hat eine Mission: Zusammen mit dem Bundesamt für Strahlenschutz will er herausfinden, ob und wie stark Pilze in Norddeutschland mit radioaktiver Strahlung verseucht sind. Es ist hierzulande die erste Untersuchung dieser Art.

In der Ukraine sind die Folgen des Reaktorunglücks von Tschernobyl am 26. April 1986 noch heute spürbar. Doch wie sieht es in Stormarn aus? „Ich sammle selbst seit 45 Jahren Speisepilze und wollte auch für mich Klarheit schaffen“, sagt Hartung. Er, der sein Geld als Mitarbeiter einer Autovermietung verdient, ist Mitglied der Ökologischen Gesellschaft Deutschland und hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Pilze zu untersuchen. Zudem bietet er Pilzberatungen und Pilzseminare an. Dabei fragten die Teilnehmer immer wieder, ob sie die Pilze aus den Wäldern Stormarns bedenkenlos essen könnten. Hartung: „Doch für ganz Mittel- und Norddeutschland gibt es keine Referenzwerte. Nur in Bayern werden Pilze und Wildbret regelmäßig überprüft.“

Also sammelt er seit 2013 in Stormarn Wäldern alle Pilze, die er finden kann. Egal, ob sie essbar, einfach nicht genießbar oder gar giftig sind. Jeder Blätterpilz (die mit den Lamellen), jeder Röhrling (die mit einem Schwamm auf der Unterseite) und jeder Porling (Baumpilze wie die Trameten) landet im Weidenkorb. „Je mehr Pilze und verschiedene Arten untersucht werden, desto sicherer sind die Ergebnisse.“ Die Baumpilze beispielsweise sind nicht essbar. Sie können aber Aufschluss darüber geben, ob die Bäume über ihre Wurzeln radioaktive Stoffe aufgenommen haben.

Die gesammelten Pilze werden in Mengen von je exakt einem Kilogramm abgepackt. Mitarbeiter des Bundesamtes für Strahlenschutz holen die Proben ab, und nach ein paar Tagen bekommt Hartung die Ergebnisse zugesandt.

„Die ersten Ergebnisse habe ich bereits. Und ich kann Entwarnung geben“, sagt er. Die Pilze in Stormarn und Umgebung seien nicht radioaktiv verseucht. Die festgestellte Strahlung liegt nicht nur weit unter den gesetzten Grenzwerten, sondern auch unter denen aus Bayern. Hartung: „Die Warnungen, man solle hierzulande keine Pilze sammeln und essen, sind falsch.“ Bei den Waldpilzen wurde ein Wert für das radioaktive Isotop Cäsium-137 von 0,32 bis 5,95 Becquerel pro Kilogramm festgestellt. Hartung: „Diese Werte sind keine Folge des Tschernobyl-Unglücks.“ Es gebe sogenanntes natürliches, atmosphärisches Cäsium, das in der Natur vorkomme. Daher weisen die Pilze eine gewisse Strahlung auf. Durch Atomkraftwerke, Atomwaffentests und in der Medizin würden weitere Isotope freigesetzt. Bestätigt wird Hartungs Aussage durch die Messungen in Süddeutschland. Dort sind Pilze derzeit mit Cäsium-137 im Wert von 1000 Becquerel pro Kilogramm belastet. Laut Bundesamt für Strahlenschutz dürfen in Deutschland keine Lebensmittel verkauft werden, die einen Wert von 600 Becquerel pro Kilogramm des Cäsium-137 übersteigen. Für den privaten Gebrauch gibt es keine Grenzwerte.

Ingo Hartung erklärt, warum die Werte in Süddeutschland so hoch sind: „Nachdem 1986 ein Reaktor in dem Atomkraftwerk explodiert war, entstanden vier radioaktive Wolken. Eine davon zog in südwestliche Richtung und kam als radioaktiver Niederschlag, dem sogenannten Fallout, vor allem in Bayern, Baden-Württemberg und in der Slowakei herunter.“ In Norddeutschland sei das nicht der Fall gewesen.

Dass die gemessenen Werte von 0,32 bis 5,95 Becquerel pro Kilogramm reichen, erkläre sich durch die Beschaffenheit der Böden. Hartung: „In den Laubwäldern sind die Pilze weniger belastet, da radioaktive Stoffe tiefer in den Boden eindringen.“ In den Nadelwäldern wirkten die Nadeln wie ein Reetdach. Die Feuchtigkeit könne nur schwer in untere Bodenschichten vordringen. Da Pilze ihre Nährstoffe eher aus oberen Schichten beziehen, weisen Pilze aus Nadelwäldern höhere Werte für Cäsium-137 auf.

Bei den Untersuchungen wurde auch der Wert des Kalium 40 (K40) gemessen. „Dieses K40 gibt es als radioaktiven und nicht-radioaktiven Stoff“, erklärt Hartung. Jedes Lebewesen brauche ihn. Der Mensch weise durchschnittlich einen Wert von 148 Becquerel pro Kilogramm davon auf. In den gesammelten Pilzen wurden K40 Werte zwischen 124 und 162 Becquerel pro Kilogramm gemessen. Hartung: „Das ist absolut im Rahmen.“

In zwei Jahren sollen die Untersuchungen abgeschlossen sein. Bis dahin will Hartung Pilze in Schleswig-Holstein, Mecklenburg Vorpommern und bis hin zur Dänischen Grenze sammeln. Die Ergebnisse der Studie werden ab Dezember 2015 im Internet einsehbar sein. Schon am 9. Oktober hält Hartung ab 19.30 Uhr im Haus der Natur in Ahrensburg einen Vortrag zum Thema.