Die Stadt lässt Arbeitsgruppe neu aufleben, um Menschen mit Behinderungen an Entscheidungen zu beteiligen

Bargteheide. Da Vinci wartet. Der Königspudel steht ganz still. Nur die schwarzen Locken wehen im Frühlingswind. Dann kommt das Kommando. „Voran an Bord. Hopp. Hopp.“ Der Blindenhund hat verstanden und geht los. Bord heißt: Er soll über den Struhbarg zum gegenüberliegenden Bordstein. Und das „Hopp Hopp“ heißt: Mach schnell’. Denn der Struhbarg ist hier an der Einmündung des Tremsbütteler Wegs sehr breit. Annegret Walter will so schnell wie möglich raus aus der Gefahrensituation. Da Vinci zieht. Annegret Walter hält den Führungbügel fest und folgt voller Vertrauen. Sie hat keine andere Chance: Die Bargteheiderin ist blind.

Und dann geschieht es: Da Vinci geht nicht geradeaus über den Struhbarg. Er biegt ab, quer über den Tremsbütteler Weg und zieht Annegret Walter mit sich. Den Passanten, die das Geschehen beobachten, bleibt fast das Herz stehen. Ohne Vorwarnung kreuzen Frau und Hund die Fahrbahn der Ausfallstraße. Nicht auszudenken, wenn jetzt ein Auto käme und die beiden plötzlich vor einer Windschutzscheibe auftauchten.

Annegret Walter fühlt, dass etwas nicht stimmt. „Wo bin ich jetzt?“, fragt sie. Es dauert eine Weile, bis sie begreift, in welcher Gefahr sie gerade geschwebt hat. Die Bargteheiderin senkt den Kopf. „Eigentlich müsste ich mit Da Vinci jetzt schimpfen“, sagt sie. Aber sie weiß, sie kann dem Tier nichts Unmögliches abverlangen. „Einen Zebrastreifen hätte Da Vinci ohne Probleme erkannt. Es gab hier einen. Aber der ist beim Ausbau des Tremsbütteler Wegs vor einigen Jahren wegradiert worden“, sagt Annegret Walter und geht weiter – in Richtung Innenstadt und mit einem Schreck in den Gliedern. Ein Zebrastreifen am Struhbarg würde ihr Leben erleichtern und sicherer machen. Aber die Aussichten dafür stehen schlecht.

Kreisverkehrsaufsicht sieht keine Chance für Zebrastreifen am Struhbarg

Im Bargteheider Rathaus hatte sie es schon versucht. Aber der Tremsbütteler Weg ist Kreisstraße. So kam der Hinweis: Die Kreisverkehrsaufsicht ist zuständig. Aber auch dort wird abgewunken. Auf Nachfrage des Abendblatts heißt es: „Ich verstehe das alles. Aber letztlich ist das ein Einzelschicksal“, sagt Hans-Jürgen Zimmermann von der Kreisverkehrsaufsicht.

Das klingt hart. Und der Behördenmitarbeiter weiß das. „Ich höre den Vorwurf immer wieder“, sagt Zimmermann. „Aber es gibt nun einmal Vorgaben, die ich umsetzen muss.“ Und das mache oft keinen Spaß, sagt der Mann, der für sämtliche Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen in Stormarn zuständig ist und die Vorschriften genau kennt. Danach sei ein Zebrastreifen erst dann zulässig, wenn mindestens 600 Fahrzeuge und mindestens 50 Fußgänger die Straße pro Stunde nutzen. Und davon sei der Struhbarg weit entfernt. „Außerdem gilt hier Tempo 30“, sagt Zimmermann von der Verkehrsaufsicht. „Und damit sind Zebrastreifen hier grundsätzlich nicht vorgesehen.“ Auf die Frage warum, folgt erneut ein harter Satz: „Im Kern geht es dabei um nicht um den Sicherheitsfaktor, sondern um rechtliche Fragen.“ Beachte der Kreis die Vorgaben nicht und es komme zu einem Unfall, sei mit unabsehbaren Konsequenzen zu rechen.

Fast alle Ampeln in Bargteheide sind mit akustischen Signalen ausgestattet

Annegret Walter lässt sich davon nicht entmutigen. Sie war bis vor kurzem Landesvorsitzende des Blinden- und Sehbehindertenvereins Schleswig-Holstein und hat einiges erreicht. „Auch in Bargteheide hat sich vieles zum Guten verändert“, sagt die Bargteheiderin, die daran ihren Anteil hat.

Mit Baldur Müggenburg, dem Sprecher der Arbeitsgruppe „Beteiligung von Menschen mit Behinderung“, hatte sie 2012 ein Protokoll über die Ampelanlagen der Stadt erstellt. Danach gibt es noch eine Reihe von Schwachstellen. „Aber die Ampel am Bahnhof ist super. Die spricht mit mir“, sagt Annegret Walter. „Tack, Tack, Tack“ heiße: „Ich stehe hier.“ Wird der Ton lauter, heiße das: „Es kommen große oder schnelle Fahrzeuge.“ Und „Piep, Piep, Piep“ bedeute: „Jetzt ist Grün.“ Aber das ist längst nicht überall so.

Bürgermeister Henning Görtz weiß, dass noch viel zu tun ist. Deswegen soll auch die Arbeitsgruppe für Menschen mit Behinderung wieder belebt werden. Und in Sachen Struhbarg will er sich kümmern. Aber er will auch raus aus der Verteidigungsrolle. „In Hamburg sind weniger als 20 Prozent der Ampeln mit einem akustischen Signal ausgestattet. Bei uns fast alle.“

Doris Hahn hat andere Sorgen. Sie sitzt im Rollstuhl. Eine Tür zu öffnen, ist für sie ein Kraftakt. Und ohne Fahrstuhl ist sie aufgeschmissen. „Was ist denn da oben“, fragt die Bargteheiderin und schaut auf die für sie unüberwindliche Treppe zum ersten Stock des Bargteheider Rathauses. Dass dort unter anderem der Bürgermeister sein Büro hat, wusste sie bislang nicht, obwohl sie seit Mai für die Grünen in der Stadtvertretung sitzt. „Aber die Mitarbeiter im Rathaus sind alle freundlich. Außerdem gibt es einen Fahrstuhl im Neubau.“

Doris Hahn war früher Schauspielerin. Sie hat gesungen und getanzt. Dann erkrankte sie an Multipler Sklerose. Der Versuch, die Krankheit mit einer Chemo-Therapie zu behandeln, scheiterte. Hahn: „Seitdem sitze ich im Rollstuhl.“ Sie lächelt. Von Frust ist nichts zu merken. „Oh doch, ich hadere ganz oft mit dem da oben“, sagt die gläubige Bargteheiderin, die sich wie Annegret Walter in der Arbeitsgruppe für Menschen mit Behinderungen engagieren will. „Wahrscheinlich muss ich im Rollstuhl sitzen, damit sich jemand kümmert“, sagt Doris Hahn, die ihre Behinderung als Auftrag versteht.

Leicht wird das nicht. Denn es gibt widerstreitende Interessen: Ein Kreisverkehr ohne Bordsteine ist für Doris Hahn fantastisch, für Annegret Walter der Horror. Was nützt der Befehl „Voran an Bord“ wenn kein Bordstein da ist. Oft ist Da Vinci ratlos und wird trotzdem nicht ausgeschimpft. Denn der brave Begleiter ist am allerwenigsten schuld.