Ahrensburger Krankenkassen-Nachwuchs soll dadurch die Bedürfnisse von Senioren besser einschätzen können

Ahrensburg. Normalerweise könnte Eileen Schulz die Treppe in drei Sätzen herunterhüpfen. Weniger als zehn Stufen sind es. Jetzt aber klammert sich die 23-Jährige mit beiden Händen am Geländer fest, setzt einen Fuß nah vor den anderen – ganz langsam. Eileen Schulz‘ Körper ist mithilfe von Verdunkelungsbrille, Handschuhen, Ohrstöpseln und zwei Rollen fest um die Knie gewickeltem Mullverband in wenigen Minuten um Jahrzehnte gealtert. Und die junge Frau kann nur noch Umrisse ihrer Umgebung erkennen. Ihr Gehör ist sogar noch schlechter als ihre Augen, ihre Knie sind steif und die Finger taub.

Am Dienstag, dem internationalen Weltseniorentag der Vereinten Nationen, haben Eileen Schulz und drei Azubi-Kollegen von der Krankenkasse AOK in Ahrensburg gelernt wie es sich anfühlt, alt zu sein. „Ich hatte geahnt, dass Alltagssituationen im Alter schwieriger sind, das Ausmaß der Beeinträchtigung aber völlig unterschätzt“, sagt die junge Frau, nachdem sie sich die Treppe wieder hochgequält und sich erschöpft gegen einen Tisch lehnt hat. „Es ist ein komisches Gefühl, man ist orientierungslos und fühlt sich vor allem hilflos“, sagt sie. Ihre Kollegen nicken. Neben dem Treppensteigen konnten die Azubis die Hilflosigkeit auch beim schnöden Geldabzählen (1,65 Euro aus einer Handvoll Kleingeld) feststellen. Wegen der Brille und der Handschuhe konnten sie die Euromünzen weder anhand des Aussehens, noch aufgrund der Größe und Form unterscheiden.

Die Alterungs-Aktion für die Krankenkassen-Nachwuchskräfte hat sich die AWO Schleswig-Holstein ausgedacht. Rund 1400 Pfleger betreuen für den Wohlfahrtsverband in Schleswig-Holstein an rund 50 Standorten pflegebedürftige und alte Menschen – sowohl zu Hause, als auch in Heimen und Wohngemeinschaften. „Die Krankenkassen sind unsere wichtigsten Partner in der Pflege“, sagt Anke Buhl, Referentin für Alten- und Pflegepolitik bei der AWO. Sie würden immerhin schlussendlich entscheiden, ob ein Patient eine, und wenn welche, Pflegestufe erhält oder nicht.

Buhls Kollegin Peggy Saß leitet die Fachschule der AWO für Altenpflege und Sozialökonomie in Lauenburg. Sie hat die AOK-Azubis nicht nur für den Vormittag zu Greisen gemacht, sondern ihnen auch erzählt, wie Altenpfleger arbeiten. Vier Lehrlinge von ihrer Fachschule haben sie dabei unterstützt. „Wir wollten mit der Aktion auch das Verständnis der Azubis aus beiden Bereichen füreinander erhöhen“, sagt sie.

„Wir finden es gut, dass unsere angehenden Sozialversicherungsfachangestellten ein Gefühl für die Bedürfnisse der Menschen in der Altenpflege bekommen, sowohl für die Patienten als auch für die Pfleger“, sagt Silke Klink von der AOK. Sie betreut die Azubis der Krankenkasse in Ahrensburg. Pflege so sagt sie, sei ein großer Teil der Ausbildung der Sozialversicherungsfachangestellten. „Allerdings haben sie meist nur in der Theorie damit zu tun.“

„Die Realität ist oft viel anstrengender“, sagt Altenpflege-Auszubildende Sibyl Wilkens. Nicht nur emotional, weil der Tod allgegenwärtig sei, sondern auch körperlich. „Wir lernen Methoden, um die Senioren zu bewegen, etwa um sie zu waschen“, sagt sie. „Aber trotzdem ist es nicht immer leicht.“ Es sind manchmal auch die scheinbar harmlosen Situation, die von den Altenpflegern viel abverlangen. „Wir haben einen steigenden Anteil an Demenzkranken in der Pflege“, sagt Anke Buhl von der AWO. Die verwirrten Senioren würdevoll und professionell zu betreuen, erfordere auch mal ungewöhnliche Methoden. „Wenn eine Altenheimbewohnerin beispielsweise nachts einkaufen gehen will, muss der Pfleger mit ihr eine Runde auf dem Gang drehen und den Einkauf simulieren“, sagt sie.

Auch das werden die angehenden Sozialversicherungsangestellten noch kennenlernen. Im Dezember sollen sie zwei Tage in einem Altenheim der AWO arbeiten. Die vier AWO-Lehrlinge kommen zum Tausch in die AOK-Geschäftsstelle in Ahrensburg, „damit auch sie Verständnis für die Situation der Gegenseite gewinnen können“, sagt Andreas Kulina, stellvertretender Regionalleiter der AOK-Nordwest. „Denn manchmal müssen wir Anträge ablehnen, ob wir wollen oder nicht. Das liegt an den gesetzlichen Vorgaben, an die wir uns halten müssen.“

So unterschiedlich ihre Aufgaben auch sind, auf den Rollentausch im Dezember freuen sich die Azubis der Krankenkasse sowie der Altenpflege. „Es ist spannend, die andere, die emotionale Seite kennen zu lernen“, findet AOK-Azubi Julian Rieck. Die jungen Altenpfleger erhoffen sich vom Ausflug in die Welt der Krankenversicherungen im Gegenzug einen fachlichen Einblick. Sibyl Wilkens: „Ich hoffe, dass wir lernen, wie wir unsere Dokumentationen und Anträge für die Pflege besser formulieren können.“