Mit neuem Konzept verfolgt die Staatsanwaltschaft Lübeck Menschen, die ständig Gesetze brechen. Es zeigt Erfolg
Ahrensburg/Lübeck. Gestern zum Beispiel könnte er am Ahrensburger Bahnhof einem Jugendlichen auf die Nase gehauen haben, zur Stunde handelt er vielleicht in Hamburg mit Drogen, und morgen schon wird er vielleicht in Pinneberg in ein Einfamilienhaus einbrechen. Die Strecken dazwischen legt er vorzugsweise mit der Bahn zurück, aber ohne gültigen Fahrausweis. Oder mit dem Auto, aber ohne Führerschein. Genau diesen Mann gibt es nicht, er ist konstruiert. Und doch sind Menschen wie er mitten unter uns. Menschen, die eines mit Sicherheit nicht mehr sind: Kleinkriminelle. Die Strafverfolgungsbehörden sprechen von Intensivtätern. Um ihrer schneller habhaft zu werden, verfolgt die Staatsanwaltschaft Lübeck seit Kurzem ein neues Konzept. Täterorientierte Strafverfolgung lautet der Name, kurz TOS. Es zeigt erste Erfolge.
„Wir haben Mitte März 32 Personen für dieses Programm ausgewählt“, sagt der Lübecker Oberstaatsanwalt Malte Sebelefsky, der gemeinsam mit seinem Kollegen Dirk Hartmann nun quasi so etwas wie ein Intensivtäterbeauftragter in der auch für Stormarn zuständigen Anlagebehörde ist. „Seit März“, sagt Sebelefsky, „sind 21 dieser 32 Personen schon wieder strafrechtlich in Erscheinung getreten. Gegen sie laufen 79Verfahren.“ Vier Haftbefehle seien beantragt worden, drei sind ergangen.
Drei von 21 im Gefängnis, jeder siebte, knapp 15 Prozent. „Das ist eine extraordinär hohe Quote“, sagt Thomas-Michael Hoffmann, Leitender Oberstaatsanwalt in Lübeck. Zum Vergleich: Seine Behörde bearbeitet jährlich rund 70.000 Verfahren; die zuständige Justizvollzugsanstalt Lübeck hat 126 Plätze für Untersuchungshäftlinge.
Ähnlich verhält es sich bei der Staatsanwaltschaft Kiel. Dort läuft das TOS-Projekt sogar schon ein bisschen länger. Oberstaatsanwaltschaft Bernd Winterfeldt kann eine Bilanz fürs komplette Jahr 2012 ziehen. „Wir hatten zwar nur 24 Intensivtäter“, sagt er und betont „nur“, als setzte er das Wort in Anführungszeichen. „Diese 24 haben aber richtig Gas gegeben.“ 587 Verfahren gingen auf ihr Konto.
Im Jahr davor seien es 521 Verfahren, begangen durch 37 Personen, gewesen. In der Jahrespresseerklärung 2012 des schleswig-holsteinischen Generalstaatsanwalts Wolfgang Müller-Gabriel heißt es dazu: „Nahezu alle Intensivtäter konnten aufgrund der fokussierten Bearbeitung bei Polizei und Staatsanwaltschaft innerhalb eines kurzen Zeitraums mit einer erheblichen justiziellen Reaktion bedacht werden.
„Erhebliche justizielle Reaktion“, das heißt: mindestens Haft auf Bewährung. TOS scheint sich also messbar zu bewähren. Doch so überraschend es wirkt: „Täterorientiertes“ Vorgehen ist für Staatsanwälte bislang nur im Jugendstrafrecht an der Tagesordnung, grundsätzlich aber nicht bei der Verfolgung Erwachsener. Da nämlich gilt das Tatortprinzip. Wer in Ahrensburg einem auf die Nase haut, in Hamburg Drogen verkauft und in Pinneberg einbricht, bekommt es eigentlich mit drei Staatsanwälten zu tun, die nur die jeweils eine Tat in ihrem Zuständigkeitsbereich sehen. Und die sie einzeln bei den in ihrem Bezirk zuständigen Gerichten anklagen.
„Das dauert“, sagt der Leitende Oberstaatsanwalt Hoffmann, „und das wollen wir nicht. Wir wollen, dass die Mühlen der Justiz hier schneller mahlen. Und wir wollen, dass ein Intensivtäter vor Gericht so abgebildet wird, wie er sich in seiner ganzen Pracht darstellt.“ Das Ziel sei klar: Der Täter müsse schneller in Haft. Deshalb habe jeder Intensivtäter seinen persönlichen Staatsanwalt.
Doch wie kommt jemand in den Genuss, als Intensivtäter geführt zu werden? Die 32 Namen habe die Polizei geliefert, sagt Oberstaatsanwalt Malte Sebelefsky. Sechs der Personen kämen aus Stormarn, sieben aus dem Kreis Herzogtum Lauenburg, acht aus Ostholstein und elf aus dem Lübecker Stadtgebiet. Sebelefsky: „Es sind Menschen, die in schneller Abfolge besonders rücksichtslos und gewalttätig agieren und denen es an Einsicht mangelt.“ Sein Chef Hoffmann sagt: „Wir zielen ab auf den Räuber, der dissozialisiert ist, der nachts Leuten die Handys abzieht, der alte Frauen überfällt, der in Häuser einbricht.“ Es seien jene Täter, die Opfer traumatisiert zurücklassen. Es gehe um die Taten, bei denen der gesunde Menschenverstand sage: „Das geht doch so nicht.“
Immer wieder sehe sich die Staatsanwalt der Frage ausgesetzt, ob es mit der Unschuldsvermutung vereinbar sei, überhaupt von Intensivtätern zu sprechen, Menschen als solche zu stigmatisieren. Hoffmanns Antwort ist eindeutig: „Wir sprechen niemanden schuldig. Wir bereiten nur vor.“ Gleichzeitig macht er klar, dass die Behörden mit der Zielgruppe Intensivtäter kein Pardon kennen würden. „Wer straffällig wird, bekommt ganz viele Chancen. Wer schließlich in den Vollzug geht, hatte Chancen über Chancen.“ Ungenutzte Chancen.