Von der ukrainischen Grenze bis nach Delingsdorf : Wie 260 Pflücker aus Polen auf den Erdbeerfeldern arbeiten. Und wie sie hier leben

Das Dorf mit den grünen Containern wirkt wie ausgestorben. Die Fenster sind verschlossen, nur einige Waschräume stehen offen. Da tritt ein braun gebrannter Mann heraus, greift zum Bohrer und beginnt, an einem hölzernen Sichtschutz für den Dusch-Container zu arbeiten. Es ist Dariusz Kaschek, 43, aus Gliwice (Gleiwitz) in Polen. "Es gibt immer viel Arbeit hier", sagt er.

Wir sind in Delingsdorf, mitten in den Feldern. In diesem Camp, das der Betreiber Wohnplatz nennt, leben zurzeit 260 polnische Erntehelfer. Sie kommen wie Kaschek aus Oberschlesien, vor allem aber aus Jaroslaw im Karpatenvorland - nicht weit von der ukrainischen Grenze. 70 Prozent der Helfer im Alter von 18 bis 70 Jahren sind Frauen. Jetzt, da das Camp leer steht, sind alle auf den Erdbeerfeldern im Einsatz. Die Wohnblocks brauchen sie eigentlich nur zum Schlafen. Und das weiße Zelt auf dem gepflegten Rasen mal zum Feiern. Wenn der Chef im Juli Geburtstag hat.

Der Chef, das ist Enno Glantz, 68. Auch in diesem Sommer setzt der norddeutsche Landwirt wieder ganz auf die polnischen Erntehelfer, die zehn Stunden und mehr pro Tag Erdbeeren pflücken. Für sechs Euro netto die Stunde als Grundlohn. Wer besonders fleißig ist, kann auf zwölf Euro netto pro Stunde kommen. Vorausgesetzt, Menge und Qualität stimmen. Am Ende, bei der Abgabe der Körbe am Traktor auf dem Feld, klickt der Scanner.

Per Hightech wird festgehalten, wie viel der einzelne Helfer gepflückt hat bei diesem Knochenjob. Ausgezahlt wird der Lohn zum Schluss des Ernteeinsatzes, wenn die Polen wieder nach Hause fahren. Enno Glantz beschäftigt derzeit in Delingsdorf 260 und in Hohen Wieschendorf (Mecklenburg-Vorpommern) 380 polnische Erntehelfer. "Deutsche", sagt er, "sind nach wie vor nicht dabei. Denn keiner will dafür den Rücken krumm machen." Weil die Wetterbedingungen jetzt optimal sind, laufen die Erntearbeiten auf Hochtouren. Die süßen Früchte auf den insgesamt 85 Hektar großen Delingsdorfer Erdbeerfeldern müssen zügig geerntet sein. "Innerhalb von höchstens 20 Stunden ist die Ware beim Verbraucher", verlangt Glantz. Beide Betriebe versorgen die Norddeutschen täglich mit 50 Tonnen frischen Erdbeeren. Zum Preis von derzeit 5,50 Euro pro Kilo.

Es ist morgens, kurz vor 4 Uhr. Im Delingsdorfer Erdbeer-Camp erwacht das Leben. Wo die Felder sich bis zum Horizont erstrecken, treten immer mehr Menschen aus ihren Vier-Bett-Zimmern. Czien Dobry, Guten Tag, ein neuer Morgen beginnt. Auch dieser Tag gleicht jedem anderen: Erdbeeren pflücken. Nur, dass die Sonne vielleicht noch intensiver auf die Köpfe scheint. Auf den Weg macht sich an diesem Morgen auch Monica Zolnowska, 28. Sie wohnt sonst in Wloclawek, rund 140 Kilometer von Warschau entfernt, und unterstützt mit den Euro aus Deutschland das Einkommen ihres Mannes und ihrer Familie. "Ein Euro - das sind vier Zloty", sagt sie. "Bei uns sind die Lebensmittelpreise gestiegen. Wir brauchen das Geld. Und deshalb bin ich schon zum vierten Mal hier."

Inzwischen sind 90 Pflückerinnen und Pflücker auf dem vier Hektar großen Feld eingetroffen. Alle sind mit einem Fahrrad über die staubigen Feldwege vom Camp zu ihrem Arbeitsplatz gefahren. Enno Glantz stellt jedem Einzelnen ein Rad zur Verfügung, damit die Helfer mobil sind. Nicht nur während ihrer Arbeitszeit, sondern auch in der knappen Freizeit. Dann nämlich fahren die Polen mit den Glantz-Rädern etwa in den örtlichen Supermarkt. "Ich", sagt Glantz lachend, "kriege bestimmt mal dafür einen Orden von Aldi."

Mit Knieschonern robben die polnischen Pflücker in Reih und Glied über das trockene Stroh, das zwischen den Pflanzen liegt. Die Rücken sind krumm, zehn Stunden lang, die Blicke auf die reifen Früchte gerichtet. Daneben die Körbe, auf einem fahrbaren Untersatz gestellt. Kein Wort fällt. Drei Früchte, so will es der Chef, sollen auf einmal gepflückt werden. Mehr nicht, denn das drückt die Qualität.

Vorarbeiter bringen den Neulingen bei, wie die Früchte der süßen Sorte Honeoye zu handhaben sind. Es heißt, Erdbeeren seien wie rohe Eier zu behandeln. Enno Glantz sitzt in seinem Büro auf dem Delingsdorfer Erdbeerhof. Vom Fenster aus hat er einen weiten Blick auf saftige grüne Wiesen. Dort liegen Pferde in der Junisonne. Der Chef telefoniert, nachdem er kurz zuvor mit seinem VW Touareg eingetroffen ist. Es geht um das Anheuern neuer polnischer Arbeiter. Monika, eine deutsche Studentin, hält den Kontakt mit den Erntehelfern in Jaroslaw.

Sie muss rund drei Tage vorher anrufen, damit sich immer neue Arbeiter von der östlichsten polnischen Grenze ins schleswig-holsteinische Delingsdorf auf den Weg machen können. Die meisten mit einem Charter-Bus bis zum ZOB in Hamburg. Bei mindestens 14 Stunden Fahrzeit.

Glantz legt sein Handy auf den Tisch und schüttelt mit dem Kopf. Was habe er nicht alles versucht, um deutsche Arbeiter zu finden. "Doch kein Deutscher will tagelang Erdbeeren pflücken", sagt er und erinnert an eine Kooperation mit dem Arbeitsamt. Von den 400 deutschen Interessenten hätten am Ende gerade mal zwölf zugesagt. Viel zu wenig für die Ernte.

Noch in den 1970er-Jahren war die Delingsdorfer Erdbeer-Ernte fest in der Hand von 50 einheimischen Frauen. Doch je schneller Glantz zu einem der größten Direktvermarkter in Norddeutschland aufstieg, desto stärker wuchs der Bedarf an Arbeitskräften. In den 1980er-Jahren wurden deshalb verstärkt türkische Pflücker angeworben. "Ich habe davon ganz graue Haare bekommen", erinnert er sich - und verweist auf die oft heftigen Auseinandersetzungen zwischen Kurden und Türken.

Dann kam der Fall des "Eisernen Vorhangs". Fortan konnten die polnischen Arbeitskräfte nach Delingsdorf kommen. Wie Dariusz Kaschek aus Gleiwitz, der schon seit 1996 für Enno Glantz arbeitet und vom Chef gern als "zweitwichtigster Mann" gelobt wird.

Oder Woytek Kogut, 25, der seit sechs Jahren jeden Sommer hier schuftet und sich zum Leiter der Lagerhalle hochgearbeitet hat. "Es gibt zwar viel Arbeit, aber dafür gutes Geld", sagt er. Der junge Mann, der in Polen Verwaltungswissenschaft studiert, finanziert mit dem Ernteeinsatz sein Studium. Er gehört zu den wenigen im Camp, die in einem Zwei-Bett-Zimmer schlafen. Neben ihm liegt - seine Frau. So muss er nicht wie andere seine Lieben zu Hause wochenlang entbehren.

Inzwischen ist es gegen 9 Uhr. Endlich können die Arbeiter ihre wohlverdiente Frühstückspause einlegen. Auf dem Feld gibt es belegte Brötchen und Tee, das Mittagessen wird Stunden später als Fertiggericht geliefert. Danach heißt es weiter: mit Hochdruck pflücken, damit die Norddeutschen die heiß begehrten süßen Früchte genießen können. In dieser Saison werden es nicht nur Sorten Hanoeye und Sonata sein, sondern erstmals auch die späte Malwina. Enno Glantz schwärmt davon, wenn er an diese Züchtung denkt, die er drei Jahre lang vorher getestet hat. "Sie kann bis Ende August geerntet werden und schmeckt einfach grandios. Wie aus Omas Garten."

Weil die Saison diesmal in die Verlängerung geht, werden noch mehr polnische Erntehelfer gebraucht. Insgesamt sind 750 Pflücker und 600 Mitarbeiter im Verkauf nötig.

Irgendwann, am späten Nachmittag, ist Feierabend. Die Arbeiter fahren zurück ins Camp. Ab unter die Dusche! Am Abend wollen sie noch ein bisschen Tischfußball spielen, Wäsche waschen und klönen. Um 22 Uhr geht das Licht aus. Groß Party machen will heute hier keiner. Dafür reicht die Kraft nicht mehr. Und am nächsten Morgen müssen alle vom Erntecamp wieder früh aus den Federn.