Serie: Jeden Sonnabend stellen wir einen Verein und dessen Mitglieder vor. Heute: Der Schönberger Freundeskreis Sieraków

Der Schlagbaum liegt abgeknickt am Straßenrand, daneben leere Sektflaschen. Es ist der 9. November 1989. Vor wenigen Stunden ist die Mauer gefallen. Vor wenigen Stunden haben Schönberger Musiker einen Partnerschaftsvertrag abgeschlossen mit einem Orchester aus dem polnischen Ort Sieraków. Die seit drei Jahren bestehende Freundschaft zwischen dem Swinging Orchestra Schönberg und dem Jugendblasorchester der Glashütte Warta ist offiziell.

Heute hat sich daraus der Schönberger Freundeskreis Sieraków (SFS) mit 53 Mitgliedern gebildet. Dass der 9. November 1989 nicht nur für sie, sondern für die ganze Welt Bedeutung haben würde, ahnten die Schönberger damals nicht. "Als wir uns auf den Weg nach Sieraków machten, mussten wir noch durch den Grenzübergang bei Gudow", sagt der heutige Vorsitzende Peter Urgien. "Kurz vor der Unterzeichnung sahen wir im Fernsehen Menschen, die die Mauer stürmten. Wir verstanden kein Polnisch und wussten nicht: Ist das Krieg oder Frieden?"

Kurz vor dem Festakt wissen sie dann, was kurz zuvor noch undenkbar gewesen ist: Die Mauer ist gefallen. Ein weiterer Grund, die Freundschaft zwischen den Orchestern zu besiegeln.

Angefangen hatte alles drei Jahre zuvor. Der Schönberger Spielmannszug, das heutige Swinging Orchestra, wollte seinen zehnten Geburtstag mit einem Musikfest und der ersten Auslandsfahrt begehen. Der damalige Vorsitzende, Heinrich Kohl, hatte als Viehhändler geschäftliche Beziehungen nach Polen. "Wir reisten mit 35 Jugendlichen eine Woche lang durch verschiedene Städte", sagt Urgien, der den Spielmannszug dirigierte. Vier der damaligen Teilnehmer sind heute noch im Förderverein vertreten, unter ihnen Peter Urgien und Beisitzerin Sibylle Valley.

Anfangs gestaltete sich die Ausreise der Polen problematisch

Am letzten Tag der Reise besuchten sie Sieraków. In dem 6000-Einwohner-Ort in der Woiwodschaft Großpolen nahmen die Schönberger Kontakt auf zum Jugendblasorchester der Glashütte Warta, dem damaligen Hauptarbeitgeber in der Gemeinde. Eine Sprachbarriere habe es nie gegeben, sagt Peter Binder, die "gute Seele" des Vereins. "Viele Sierakówer sprechen Deutsch, mit den anderen haben wir uns mit Händen und Füßen verständigt. Die Musik verbindet sowieso."

Beim ersten Besuch der Polen in Schönberg nahmen Peter Binder und seine Frau Ilse, die Kassenwartin des Vereins, vier Jugendliche bei sich auf. Zuvor mussten Hürden überwunden werden. "Die Behörden in Warschau hatten ihr Okay für die Ausreise gegeben, wollten aber nicht, dass die Kinder in Gastfamilien untergebracht werden", sagt Urgien. Sie hätten wohl Angst gehabt, dass diese nicht mehr zurückkämen. Den Schönbergern gelang es, ihre Idee durchzusetzen. Dafür war Organisationstalent gefragt. "Jedes Mal, wenn ich mit Warschau telefonieren wollte, musste ich mir freinehmen. Bis der Kontakt hergestellt war, konnte ein Tag vergehen", berichtet Urgien. Schließlich fand er Gehör. Im Sommer 1986 fuhr er an den Grenzübergang Gudow, um die 76 Besucher auszulösen.

"Mitgeschickt wurden auch einige Aufpasser, die abends durch den Ort patrouillierten, um zu kontrollieren, dass die Kinder in den Häusern blieben", sagt Urgien. Der Austausch jedoch wurde ein voller Erfolg. "In historischen Kostümen gab das polnische Orchester Konzerte vor mehreren Tausend Besuchern und eröffnete sogar das Alstervergnügen in dem Jahr."

Im Jahr darauf folgte der erste Gegenbesuch. "Wir sind mit rund 100 Leuten nach Sieraków gefahren", sagt Urgien. "Viele der Schönberger Gastfamilien, die im Jahr zuvor Jugendliche aufgenommen hatten, sind mitgekommen." So auch Ilse und Peter Binder. "Einer der Jugendlichen, die bei uns gewohnt hatten, stellte den Kontakt zu seinen Eltern her", sagt Ilse Binder. In Sieraków lernten die Binders das polnische Lehrerehepaar kennen. "Daraus hat sich eine Freundschaft ergeben. Wir telefonieren noch immer fast täglich."

Für sein Engagement wurde der Verein mehrfach ausgezeichnet

Neben zahlreichen engen Freundschaften entstand aus der deutsch-polnischen Verbindung sogar eine Ehe. In einem Jahr begleitete der Sierakówer Schlachter den Austausch, um den Schönbergern seine Arbeit vorzustellen. Seine Mitarbeiterin wohnte bei der Nachbarin von Schriftwartin Alicja Kaczmarczyk. "Der Sohn meiner Nachbarin hatte mit unserem Austausch eigentlich gar nicht viel am Hut", erinnert sich Kaczmarczyk. Als der Mann jedoch nach Hause kam und die junge, hübsche Frau sah, habe er sich gleich verliebt. Heute lebt das Paar gemeinsam mit seinen zwei Kindern in Schönberg.

Für die Hochzeit der zweiten Vorsitzenden Gaby Koalick hatte der Freundeskreis zwar nicht gesorgt, bei der Feier 1993 trat aber das polnische Orchester auf. Auch zu Ilse Binders Geburtstag spielten die Sierakówer Musiker im Wohnzimmer der Familie.

Das Jugendblasorchester der Glashütte Warta nennt sich inzwischen Mikano. "Das Orchester spielt Folklore, aber auch moderne Rock- und Popmusik", sagt Urgien. Die Musik zieht sich wie ein roter Faden durch die Vereinsgeschichte. Seit 1997 organisieren die Mitglieder auf dem Schönberger Kornboden die Rocknächte. "Die Bands, die aus Deutschland und aus Polen kommen, spielen unentgeltlich", sagt Urgien. Der Erlös der Benefizveranstaltung fließe in die Vereinskasse. "So finanzieren wir 20 Prozent unseres Jahresbudgets." Die nächsten Rocknächte sind am 25. und 26. Oktober.

Wichtig sind den Vereinsmitgliedern vor allem die Ferienfreizeiten, die sie regelmäßig für Kinder und Jugendliche organisieren. Zwölfmal haben die Schönberger schon polnische Kinder eingeladen, die einige Tage auf dem Kornboden der Gemeinde übernachten. "Das Sozialamt und die Schule in Sieraków suchen dafür 20 Kinder aus, die aus sozialen Brennpunkten kommen", sagt Urgien. Die einheimischen Kinder würden mit einbezogen.

An den Schüler- und Orchesteraustauschen nahmen in den vergangenen Jahren 207 Schüler und 485 junge Musiker teil. Auch bei diversen Ausstellungen wollen die Deutschen und die Polen einander ihre Lebensweisen nahebringen. "Bei Ausstellungen mit Firmen und Verbänden stellen wir einander vor, wie das alltägliche Leben bei uns funktioniert", sagt Urgien. Auf dem Weihnachtsmarkt verkaufen die Mitglieder des Freundeskreises polnische Produkte. Der Erlös wird in Weihnachtspakete investiert, die an die Kinder in Sieraków verschickt werden. Für seine Bemühungen um die deutsch-polnische Freundschaft ist der Verein schon mehrfach ausgezeichnet worden.

Zum Jubiläum fahren die Mitglieder auf Studienreise nach Krakau

In diesem Jahr feiert der Förderverein sein 20-jähriges Bestehen. Im Rückblick kann der SFS wohl zu Recht von sich sagen, zur deutsch-polnischen Freundschaft einen bedeutenden Teil beigetragen zu haben. Aus Anlass des Jubiläums organisiert der Verein Anfang Mai eine Reise nach Krakau. Wenn dann die Sektkorken knallen, werden die Mitglieder des SFS dieses Mal gleich wissen, was der Grund dafür ist.

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