Abgeschoben in ein Altenheim? Davor haben viele Senioren Angst. Beobachtungen aus Bargteheide zeigen, dass das nicht immer begründet ist

Bargteheide. Eigentlich ist es ein Grund zur Freude: Wir leben im Durchschnitt 30 Jahre länger als unsere Vorfahren vor rund 100 Jahren. Doch mit dem Alter steigt auch das Risiko von Erkrankungen und damit die Wahrscheinlichkeit, auf Hilfe angewiesen zu sein. In den 50 Alten- und Pflegeeinrichtungen im Kreis Stormarn leben zur Zeit rund 5000 Menschen - dabei haben die meisten von ihnen wohl kaum von einem Lebensabend im Heim geträumt. Zu groß ist die Angst vor dem Verlust der Eigenständigkeit und dem Ausgeliefertsein in fremde Hände.

Ingeborg Daniel lächelt ihr Spiegelbild an. "Ich bin eigentlich immer noch eine gut aussehende Frau, finden Sie nicht?" Ja, das ist sie. Jede Falte im Gesicht der 80-Jährigen erzählt eine Geschichte. Das volle, schlohweiße Haar ist kurz geschnitten, eine goldene Brosche ziert den dunkelblauen Strickpullover. Die alte Dame legt die Bürste zur Seite, wirft noch mal einen prüfenden Blick in den Badezimmerspiegel, bevor sie sich wieder in den bequemen Sessel ans Fenster ihres knapp 14 Quadratmeter großen Zimmers setzt. Seit zwei Jahren lebt Ingeborg Daniel im Seniorenzentrum Bargteheide. Sie ist eine von 40 Bewohnern, die in dem Rotklinkerbau an der Lübecker Straße ein neues Zuhause gefunden haben. Doch ist es das wirklich? Ein Zuhause? Oder ist es eine bloße Notunterkunft für Menschen, die im Alter alleingelassen und auf Hilfe angewiesen sind?

Entscheiden Angehörige sich für ein Altenheim, werden sie von ihrem Umfeld häufig ganz offen mit dem Vorwurf konfrontiert, Oma, Opa, Vater oder Mutter "ins Heim abzuschieben". Zu dem schlechten Gewissen gesellt sich die große Sorge, den Angehörigen womöglich in schlechte Hände zu geben. Nachrichten über unzumutbare hygienische Zustände in Altenheimen, Zwangsfixierungen oder Ruhigstellung durch Medikamente ohne ärztliche Verordnung schüren die Angst. Erst Mitte März hat das Schöffengericht Ahrensburg einen ehemaligen Pflegehelfer wegen Misshandlung verurteilt. Die Rechtfertigung des verurteilten Pflegehelfers: Der Bewohner sei launisch und undankbar gewesen, das Verhältnis habe sich immer mehr verschlechtert. Außerdem sei der Zeitdruck während der Arbeit sehr hoch gewesen.

"Das darf niemals eine Entschuldigung sein", sagt Petra Unger resolut. Vor der Heimleiterin liegt der aktuelle Dienstplan des Bargteheider Seniorenzentrums. "Der Personalschlüssel in Schleswig-Holstein ist der zweitschlechteste in Deutschland. Das heißt, dass wir beispielsweise im Vergleich zu Baden-Württemberg tatsächlich weniger Zeit für die Bewohner haben. Doch gute Pflege lässt sich nicht auf der Uhr ablesen. Es kommt vor allem auf die Qualität an." Bei Petra Unger, die von den Bewohnern des Seniorenzentrums liebevoll "unsere Chefin" genannt wird, laufen alle Fäden zusammen: Pflege, Hauswirtschaft, Verwaltung und Haustechnik.

Doch neben dem Management ist der gebürtigen Siegerländerin eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Pflegekräften wichtig. "Auch bei uns gibt es Bewohner, die nicht immer ganz einfach sind. Es kommt manchmal vor, dass sie unsere Mitarbeiter beschimpfen oder sogar handgreiflich werden." Oft sind es krankheitsbedingte Wesensveränderungen, die zu solchen Übergriffen führen. Das geht selbst den erfahrensten Pflegekräften an die Substanz. "In solchen Momenten hilft es, sich der schwierigen Situation erst einmal zu entziehen und das Gespräch mit einem Kollegen oder mit mir zu suchen. So kann sich Frust gar nicht erst anstauen", sagt sie.

Die Tür von Petra Ungers Büro steht immer offen. Auch für Menschen, die nach einem geeigneten Heimplatz Ausschau halten. Seit 2009 prüft der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) mindestens einmal im Jahr alle stationären und ambulanten Pflegeanbieter und vergibt Noten. Die Bewertungsergebnisse sind als sogenannte Transparenzberichte im Internet für alle einsehbar. Doch sie sollten nur als Orientierung dienen. Die Heimleiterin empfiehlt Interessenten immer einen persönlichen Besuch. "Auch unangekündigt. Gute Heime bieten außerdem von sich aus die Möglichkeit an, zuerst einmal für einige Wochen zum Probewohnen einzuziehen. Nichts ist wichtiger als das eigene Bauchgefühl. Und das kann man einfach nicht in Noten ausdrücken." Erst vor einer Viertelstunde saß ihr eine junge Frau gegenüber, deren 74 Jahre alte Großmutter nach einem Krankenhausaufenthalt auf Pflege angewiesen sein wird. Die Entscheidung für einen Heimaufenthalt ist schnell gefallen. Aber wo? Nach einem ausführlichen Rundgang durchs Haus verabschiedet sich die Enkelin. Nächste Woche wird sie wiederkommen, gemeinsam mit ihrer Oma. "Gestern habe ich mir ein anderes Seniorenheim angeschaut. Das war zwar superschick. Aber mir ist dort kein einziger lachender Mensch begegnet."

Gelacht wird in den Räumen des Seniorenzentrums Bargteheide gern und oft. Auch Ingeborg Daniel hat hier wieder gelernt, fröhlich zu sein. Nach dem plötzlichen Tod ihres zweiten Mannes fiel die damals 78-Jährige in ein tiefes Loch. "Nachts war es am schlimmsten. Ich konnte überhaupt nicht mehr einschlafen, habe ständig Schritte gehört. So, als wäre mein Frank noch immer irgendwo in der Wohnung." Heute ist ihr, außer den Erinnerungen an "die schönste Zeit" in ihrem Leben, nur noch ein Foto von ihrem Frank geblieben. Es steht, golden eingerahmt, auf ihrem Nachttisch. Voller Wehmut betrachtet sie es. "65 ist doch viel zu früh, um zu sterben, oder?" Ein Türklopfen holt Ingeborg Daniel wieder in die Gegenwart zurück. Hier ist sie nicht allein - wenn sie nicht allein sein will.

Ein junger Mann kommt ins Zimmer, begrüßt die Witwe herzlich. "Lust auf Musik?" - "Immer!" Jeden Donnerstag wird im Gemeinschaftsraum zum Tanz geladen. Niclas Wriedt reicht Ingeborg galant den Arm. Im Rahmen seiner Ausbildung absolviert der 21-jährige Todendorfer im Seniorenzentrum Bargteheide ein vierwöchiges Praktikum. "Fachkraft für Pflegeassistenz" darf er sich nach dem Abschluss in zwei Jahren nennen. "Uncool" finden das viele seiner Kumpel, erzählt er, während er Ingeborg zum Aufzug begleitet. Und warum hat er sich trotzdem für die Arbeit mit alten Menschen entschieden? Niclas' Blick verrät, dass ihm diese Frage schon häufiger gestellt wurde. "Die Pfleger, die meinen Opa betreut haben, als ich ein kleiner Junge war, waren meine Helden. Ihre Arbeit hat mir imponiert. Und mit älteren Menschen bin ich schon immer ganz gut klargekommen. Die haben es einfach verdient, dass man sie vernünftig behandelt. Für mich kommt kein anderer Job infrage."

Aber Niclas ist eine Ausnahme: Im Bereich der Pflege herrschen große Nachwuchssorgen. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung wird sich die Situation in den nächsten Jahren sogar noch dramatisch verschlechtern. Den Prognosen nach werden im Jahr 2030 rund 10.500 Menschen im Kreis Stormarn pflegebedürftig sein. Das sind im Vergleich zu heute mehr als doppelt so viele. Demgegenüber steht ein enormer Mangel an qualifizierten Fachkräften: 1800 unbesetzte Stellen werden vorausgesagt. Horst Gerlach, Mitarbeiter der Heimaufsicht im Kreis Stormarn: "Schon jetzt häufen sich bei uns Beschwerden Angehöriger, die den Fachkräftemangel in Alten- und Pflege-heimen kritisieren. Auf der anderen Seite hören wir von den Einrichtungen, dass es immer schwieriger wird, Personal zu finden. Das Image des Pflegeberufes muss aufgewertet werden. Das betrifft unter anderem die Bereiche Arbeitsklima, verlässliche Arbeitszeiten, Bezahlung - so dass der Beruf auch für junge Menschen attraktiver ist. Schließlich liegt in den Händen dieser Generation unsere Zukunft."

Im Gemeinschaftsraum des Seniorenzentrums Bargteheide wird mittlerweile lauthals mitgesungen: "Wir kommen alle, alle, alle in den Himmel. Weil wir so brav sind, weil wir so brav sind..." Hans-Walter Krenz aus Elmenhorst, selbst schon 75 Jahre alt, haut beherzt in die Tasten seines Akkordeons. Jeden Donnerstag unterhält der Rentner die Bewohner mit Musik, scherzt zwischendurch mit den Herren und schäkert mit den Damen. Und alle danken es ihm mit strahlenden Gesichtern. "Die Musiknachmittage machen nicht nur Spaß. Sie haben therapeutische Wirkung", sagt Heimleiterin Petra Unger. "Sehen Sie die dunkelhaarige Dame dort im Rollstuhl? Noch vor einem halben Jahr war sie so antriebslos und deprimiert, dass sie ihr Zimmer nicht verlassen hat. Heute ist sie die erste, die sich bei Herrn Krenz ein Lied wünscht, und die letzte, die den Raum verlässt."

Auch für die Liebe ist im Bargteheider Seniorenzentrum niemand zu alt. Werner Iden und Ilse Barbknecht, 85 und 87 Jahre alt, haben sich vor vier Jahren bei einer vom Heim organisierten Bustour nach Hamburg kennengelernt. "Sie hatte ihren Gehwagen vergessen. Da hab ich sie einfach an der Hand genommen und den ganzen Tag nicht mehr losgelassen. Als wir am Abend wieder zu Hause waren, hat sie sich mit einem Küsschen bei mir bedankt." Seitdem sind die beiden unzertrennlich. Dass sie im Altersheim leben ist für die beiden "ein Glücksfall". Werner Iden ist im Alltag zwar nicht pflegebedürftig und beweist mit seinen Tanzeinlagen, wie fit er körperlich noch ist. Doch das Alleinleben nach dem Tod seiner Frau hat ihm nicht gutgetan. Erst in der Gemeinschaft blühte der gelernte Landwirtschaftsmeister wieder auf. Heute ist er sogar Vorsitzender des Bewohner-Beirats. "Wir hören im Alter nicht auf, uns zu entwickeln. Wir können uns noch verändern, dazulernen, glücklich sein."

Davon ist Petra Unger fest überzeugt. "Dafür muss aber ein Altern in Würde gewährleistet sein. Und bei Bedarf die Pflege durch verantwortungsbewusste Menschen. Dann kann auch ein Altersheim ein Zuhause sein, das den Begriff Heimat verdient."