Ein Soldat aus Stapelfeld fliegt in zehn Tagen nach Afghanistan. Abendblatt hat beobachtet, wie er auf den Einsatz vorbereitet wurde.

Um 5.45 Uhr stehen die ersten Taliban unter der Dusche. Danach ziehen sie ihre langen Bundeswehrunterhosen an und werfen ihre Gewänder über, gehen zum Frühstück und essen Nutellabrötchen. In dem grell mit weißem Neonlicht gefluteten Kasernenraum sitzen ihnen an langen Tischen Soldaten in Uniform gegenüber, die aus Cottbus, Emden oder Ulm kommen. Bis die Sonne aufgeht, sind die Männer und Frauen noch Kameraden, egal ob sie Kampfanzüge oder den afghanischen Kaftan tragen. Doch draußen auf dem Übungsplatz, wenn die Sonne aufgegangen ist, wird aus den Taliban mit den Nutellabrötchen der Feind. Er steht verdeckt und bewaffnet hinter einem Gebüsch und lauert auf Soldaten - mitten in der Heide im Westen von Sachsen-Anhalt.

Auch Torsten Reimann*, 29, aus Stapelfeld und der Lübecker Patrick Müller*, 25, sind auf dem Gelände des Gefechtsübungszentrums der Bundeswehr mitten in der Ödnis zwischen Magdeburg und Braunschweig im Einsatz. Die Stabsunteroffiziere und 103 weitere Soldaten des Instandsetzungsbataillons 166 aus Boostedt (Kreis Segeberg) bereiten sich auf ihren viermonatigen Job in Afghanistan vor: Müller, Reimann und die anderen Instandsetzer reparieren Lastwagen und Panzer, Funkgeräte und Waffen. Sie werden in Mazar-i-Sharif in Werkstätten arbeiten. In der Truppe heißen diese Spezialisten "Schrauber", die sicherstellen, dass sich die Soldaten außerhalb des Camps auf ihre Ausrüstung verlassen können.

Doch manchmal müssen auch die "Schrauber" raus auf die staubigen Straßen. Zum Beispiel wenn Fahrzeuge liegen geblieben sind und repariert oder abgeschleppt werden müssen. Den Begriff "bewaffneter ADAC" hören die Spezialisten nicht gern, sie sprechen von einer Recovery Task Force (RTF). Die Männer und Frauen tragen Werkzeug und Waffen.

Gleich nach dem Frühstück haben die Boostedter Soldaten die Motoren gestartet. Ihr Übungsauftrag: Mit einem Konvoi aus Panzerfahrzeugen und Lastwagen sollen sie einen Tieflader begleiten, der einen defekten Panzer ins Camp bringen soll. Müller fährt mit, Reimann steht als RTF-Helfer bereit.

Dass die Konvoifahrer die Tour über den gigantischen, 30 Kilometer langen Übungsplatz nicht ohne einen Zwischenfall absolvieren werden, wissen die Soldaten. Sie haben die Darsteller, die die Rolle der Taliban übernehmen, bei Kaffee und Brötchen gesehen. Was die Soldaten in der landestypischen Kluft planen und wann es passieren wird, wissen sie nicht.

Brummend rollen die Fahrzeuge über die unbefestigten Wege. Ein kräftiger Wind weht über die Heide. Anfang des 20. Jahrhunderts ging hier der Kaiser zur Jagd, später übten Reichswehr und Wehrmacht. Nach dem Krieg zog die sowjetische Armee auf das Gelände und verschoss im Manöver scharfe Munition. "Blindgänger! Lebensgefahr!" steht heute auf den Schildern an den Zufahrten. Bis zu einer Tiefe von 30 Zentimetern haben Kampfmittelspezialisten den Boden gesäubert, doch die Erde ist in Bewegung. Bei den Sicherheitseinweisungen erfahren die Besucher zum Beispiel, dass sie möglichst kein Metall berühren sollten, das aus dem Boden ragt.

Der Knall ist kilometerweit zu hören, dichter Rauch steigt am Straßenrand auf. Dann beginnt der Beschuss aus Maschinenpistolen. Die Taliban vom Frühstückstisch haben sich hinter Bäumen gut versteckt. An einem Radpanzer des Konvois blinken Lampen auf, damit wissen Müller und seine Boostedter Kameraden: Der Schuss aus einer Panzerfaust hat eine Achse zerstört - zumindest theoretisch. Am Boden liegen "Verletzte". Auf Kärtchen, die ihnen um den Hals gehängt worden sind, stehen Informationen, welche Verwundungen sie simulieren müssen.

Anschlag auf einen Konvoi - dieses Szenario gehört zu grausigen Klassikern des Afghanistan-Einsatzes. In der Kälte des endlos wirkenden Übungsplatzes müssen die Soldaten jetzt reagieren, als ginge es am Hindukusch wirklich um ihr Leben: Verwundete versorgen, den Feind bekämpfen, sich in Sicherheit bringen, Verstärkung per Funk anfordern.

Eine Mulde im Erdreich bietet Deckung für Müller und einige weitere Soldaten. Die Männer liegen im Schnee. Einige versorgen Verwundete, andere sichern mit den Waffen das Gelände. Per Funk wird ein sogenannter Nineliner abgesetzt. So nennen die Soldaten den Notruf, der alle Informationen für die Operationszentrale enthalten soll. Besonders wichtig: Zwei Verwundete haben den Status "Bravo", sie sind schwer verletzt. Zwei anderen geht es noch schlechter. Wer als "Alpha" eingestuft wurde, hat ohne Hilfe nicht mehr lange zu leben.

Die Stimmen lassen den Stress erahnen, der in der eisigen Mulde herrscht. "Geh' endlich dazwischen!" raunzt der Zugführer den Mann am Funkgerät an, der wegen der Dauergespräche auf seinem Kanal den Nineliner nicht absetzen kann. Die Verwundeten brauchen nicht nur Verbandszeug. "Du sollst mit ihm reden!" lautet der Befehl für den Soldaten, der sich um die Verletzten kümmern soll.

Beobachter des Gefechtsübungszentrums nehmen die Szenen mit einer Fernsehkamera auf. "Die Männer sind echt im Stress", sagt ein Beobachter. "Die merken jetzt nicht einmal, wie kalt es ist." Nach der Übung werden Spezialisten die Szenen des Videomaterials mit den Soldaten durchsprechen.

Die Retter kommen aus der Luft. Groß wie ein Autobus schwebt der Hubschrauber vom Typ CH 53 mit der Aufschrift "Heer" über der Heide ein. Die "rote Zone" ist tabu. Wo Beschuss droht, darf der Riese nicht landen. Geschützt in einem Radpanzer fahren die Soldaten die vermeintlich Verwundeten zum Landeplatz.

Auch bei der Recovery Task Force von Reimann ist der Nineliner angekommen. 60 Minuten haben die Männer und ihre Kollegen jetzt Zeit, den angeschossenen Radpanzer mit einem Abschleppwagen vom Typ Bison zu bergen. Sie starten mit ihren Fahrzeugen dorthin, wo ihre Kollegen gerade eben beschossen wurden. Auch sie wissen nicht, welche Überraschungen sich die Übungsleitung ausgedacht hat. Doch der große Knall bleibt diesmal aus. Der "Feind" schießt aus kleinen Waffen auf die gepanzerten Fahrzeuge. Der Zugführer befiehlt, Gas zu geben: "Wir brechen durch!" Die Taliban bleiben frierend zurück, während der Bison den Radpanzer abschleppt.

"Ein Restrisiko bleibt", sagt Oberstleutnant Armin Sprengel vom Logistikbataillon in Burg bei Magdeburg. Unter seinem Kommando bereiten sich die Boostedter Soldaten auf ihren Einsatz in Mazar-i-Sharif und die schlimmsten Attacken vor. "Diese Szenarien müssen wir beherrschen", sagt Sprengel. "Darum sind wir hier."

Am 15. Februar starten die ersten Flugzeuge in Richtung Afghanistan. Auch Müller und Reimann werden an Bord gehen.

* Namen aus Sicherheitsgründen geändert. Die Redaktion entspricht damit einem Wunsch der Bundeswehr