Annelise Hain steht auf, als SS-Offiziere die Juden verhöhnen

Es war 1942. In Ostpreußen. Als medizinisch-technische Assistentin musste ich öfter vom damaligen Königsberg nach Insterburg fahren. Eines Tages saßen zwei SS-Offiziere in meinem Abteil. Die Herren redeten laut. Das entsprach nicht dem Bild, das wir damals hatten. Diese Offiziere waren keineswegs vornehm und zurückhaltend. Im Gegenteil. Sie schienen alkoholisiert zu sein. Und dann unterhielten sie sich über ein Erlebnis in Bromberg.

"Wir haben uns blendend amüsiert. Ein ganzer Haufen Juden musste sich ausziehen", sagte der eine, "und dann stellten wir uns gegenüber. Und die Juden mussten durch die Mitte laufen. Und wir mit den Knüppeln immer auf sie drauf. Das gab vielleicht ein Geschrei und Getobe. Was haben wir gelacht!"

Schweigen und Entsetzen herrschte im Abteil. Dann stand ich auf, ging auf die Offiziere zu und sagte: "Sie wollen Deutsche sein und machen so schreckliche Sachen!" Ein Mitfahrer raunte mir zu: "Setzen Sie sich doch hin. Sie machen sich unglücklich." Die Offiziere schlugen die Kragen hoch und gingen. Wir waren stumm. Dann sagte eine Frau: "Hoffentlich haben Sie Glück."

Die SS hätte mich zur Rechenschaft ziehen können. Aber mir ist nichts passiert. Das war für mich das Zeichen, dass die Offiziere ein schlechtes Gewissen hatten. Aber ich hatte auch keine Angst gehabt. Ich war so empört. In mir war solche Wut.

Das Judenvernichtungsprogramm war damals noch geheim. Aber natürlich hatte man schon etwas gehört. Und wir wussten auch, dass es verboten war, sich mit Juden zu befreunden.

Einige Jahre vorher hatte ich meine beste Freundin auf der Straße getroffen. Sie hieß Lola. Ich fragte sie, wie es ihr gehe. Lola schaute mich entgeistert an. Dann sagte sie: "Du redest mit mir? Aber ich bin doch Jüdin!" Mir lief ein Schauer über den Rücken.

Viele Erlebnisse wie diese haben sich mir tief eingeprägt. Das folgende hat mich am allermeisten bewegt: Meine Mutter und ich hatten meinen Vater zum Bahnhof begleitet. Einmal im Monat musste er dienstlich nach Berlin fahren. Wir standen zum Abschied am Schlafwagenabteil. Da kam auf einem anderen Gleis ein anderer Zug. Ich kann es kaum erzählen. Es war ein D-Zug mit großen Fenstern. Und hinter diesen Fenstern waren Juden. Dicht an dicht. Die Augen aufgerissen, die Münder geöffnet. Das Entsetzen war ihnen ins Gesicht geschrieben. Das war das schrecklichste Bild, das ich je gesehen habe. Wir fragten den Schaffner. Er sagte: "Die fahren zum Arbeiten in den Osten." Mehr sagte er nicht. Wir ahnten, dass sie alle nicht wiederkommen würden.