Esther Thomsen hatte Angst, Kritik an Hitler öffentlich zu äußern

Aufgewachsen bin ich in einem kritischen Elternhaus. Meine Eltern hatten sich von der Reichskirche abgewandt und waren Mitglied der bekennenden Kirche. Das war die Oppositionsbewegung zu den Deutschen Christen des Reichsbischofs Müller, die das Alte Testament umgeschrieben hatten, weil es ihnen zu jüdisch war. So vertrat mein Religionslehrer die Theorie, Jesus sei gar kein Jude gewesen. Ich habe ihm mit dem Bibelwort geantwortet, das ich zu Hause gehört hatte: "Denn das Heil kommt von den Juden." Das war 1934. Der Vorfall blieb ohne Folge. Danach habe ich es später nicht mehr gewagt, mich so zu äußern.

Vier Jahre später, bei der sogenannten Reichskristallnacht, wurden die Geschäfte der Juden zerstört. Ihre Inhaber wurden verprügelt und abgeholt. Und dann brannten die Synagogen. Mein Vater sagte: "Jetzt tasten sie den Augapfel Gottes an. Das wird nicht ungesühnt bleiben." Das ging mir durch und durch. Ich musste bei den Bombenangriffen immer an diesen Satz denken.

Mit dem System war nicht zu spaßen. 1942 stand mein Bruder eines Tages mit verschränkten Armen vor der Herrenschneiderei meiner Eltern. Als Soldaten vorbeimarschierten, grüßte er die Fahne der Nazis nicht. Das hätte meinen Eltern im Handumdrehen die Lizenz kosten können, denn allein schon diese Haltung galt als bewusster Akt des Widerstands.

Später setzte die Verdrängung ein. Es hieß, die Juden würden mit Zügen zum Arbeiten nach Osten abtransportiert. Meine Tante hatte Zweifel daran. Ich fragte mich, ob die Juden wohl alle ins KZ kämen. Der Mann unserer Putzfrau hatte Schreckliches über die Konzentrationslager erzählt. Als meine Lehrerin nicht mehr unterrichten durfte, wurde sie depressiv und deshalb in eine Nervenheilanstalt eingeliefert. Dann wurde auch sie abgeführt, in die Tötungsanstalt, ins KZ. Dort ist sie umgekommen. Ein elfjähriger Junge in unserem Haus war ebenfalls krank und wurde abtransportiert. Nur seine Urne kam zurück.

1943: der Bombenangriff auf Hamburg mit Tausenden Toten. Und die Mitglieder der Widerstandsbewegung "Weiße Rose" wurden geköpft. Sie waren nicht viel älter als ich damals. Aber ich hätte es nicht riskiert, Flugblätter zu verteilen. Ein Jahr später das Attentat auf Hitler. Ich war in der neunten Klasse. Der Vater einer Mitschülerin war Nazi und Richter. Sie sagte: "Die Vorsehung hat Hitler bewahrt." Ich fand es schrecklich, dass das Attentat auf Hitler nicht geklappt hatte. Aber ich sagte nichts. Ich hatte Angst.