Nach dem Krieg musste Harald Düwel die Software im Kopf austauschen

Zur Zeit der Machtergreifung war ich ein Jahr alt. Trotzdem war meine Kindheit wunderbar. Ich habe all das Grauenhafte nicht gemerkt. Ich weiß nur, dass wir an der Ostsee waren, als der Krieg ausbrach. Wir mussten unseren Urlaub abbrechen. Das fand ich gar nicht schön. Und ich weiß noch, dass unser Auto eingezogen wurde und es später mit einem General vorbeifuhr. Das fand ich einfach nur komisch.

Dann fielen die Bomben. Ich erinnere mich an einen Alarm 1942. Wir waren wie gewohnt in den Luftschutzkeller gegangen. Die Kinder waren immer ganz scharf darauf, im oberen Etagenbett zu liegen. Ich auch. Da lag ich dann. Und plötzlich wurde ich rausgeschleudert. Durch die Druckwelle der Detonation flog ich durch die Luft. Ich hätte hopsgehen können. Ich fand das nicht schlimm, nur spannend.

Ein anderes Ereignis gab mir mehr zu denken: Einige Zeit später saß meine Mutter neben mir und fing an zu weinen. Ich hatte meine Mutter noch nie weinen sehen. Da wurde mir klar: Es passiert gerade etwas Furchtbares. Dahinter konnte nicht nur die Sorge um mich stecken.

Und dann kam der Feuersturm in Hamburg. 1943. Der Großangriff Gomorrha. Drei Tage war es dunkel in der Stadt. So viel Staub und so schwere Rauchwolken hingen über Hamburg. Das war für mich eindeutig eine unvorstellbare Missetat des perfiden Albions. So hieß England in der Nazi-Propaganda. So hatte ich es all die Zeit gehört. Und nun dieser schreckliche Angriff. Jetzt beschloss ich: Ich muss etwas tun. Also trat ich ins Deutsche Jungvolk ein. Eigentlich durfte man erst ab zehn Jahren mitmachen. Aber ich musste als Mann von neun Jahren tun, was getan werden musste.

So wurde ich Melder. Wenn Bombenalarm war, brauchten sie jemanden, der zwischen Kommandozentrale und den Flugabwehrstellungen Nachrichten überbrachte. Ich hatte ein Dienstfahrrad, eine Uniform, einen Ausweis und einen eisernen Willen. Frauen und Kinder gehörten während der Angriffe in den Bunker. Männer, wie ich, mussten Dienst tun. War der Alarm vorbei, räumten wir auf. Leichen und herumliegende Leichenteile von Menschen und Tieren brachten wir zur Sammelstelle. Erst danach wurden Frauen und Kinder aus den Bunkern gelassen.

Ich habe mit meiner Mutter nicht darüber gesprochen. Ich war ein Mann. Und mein Vater war nicht da. Er war im Ersten Weltkrieg verletzt worden und arbeitete beim Reichsernährungsministerium in Berlin. Wenn er nach Hause kam, saß er oft mit meiner Mutter im Wohnzimmer. Ich durfte nicht rein. Einmal war die Tür nur angelehnt. Ich spähte rein und lauschte: Mit einer Decke über den Köpfen, damit keiner etwas merkt, hörten meine Eltern Radio London. Einen Feindsender! Meine Eltern trieben Wehrkraftzersetzung. Unfassbar. Ich hätte es sofort melden müssen. Aber ich wollte sie doch nicht anzeigen! Eine schreckliche Situation für einen Neunjährigen. Ich habe meine Eltern nicht verpfiffen, obwohl ich meinem Führer die Treue halten wollte. Ob ich als Erwachsener anders gehandelt hätte, weiß ich nicht.

Dann kam der nächste Schock: Mein Onkel war Ortsgruppenführer bei der NSDAP in Bad Salzuflen. An Führers Geburtstag fuhren wir dorthin. Die Parade wurde abgenommen. Ich fand das eindrucksvoll. Aber mein Vater konnte das nicht ertragen und sagte zu meinem Onkel: "Glaubst du wirklich daran? Der Krieg ist doch verloren. Das ist doch alles Wahnsinn." Mein Onkel fuhr ihn an:. "Wenn du nicht mein Bruder wärst, würde ich dafür sorgen, dass du sofort ins KZ kommst."

Plötzlich wusste ich nicht mehr, was ich denken sollte. Was war denn nun die Wahrheit? Wenn sich nicht einmal zwei Brüder einig waren. Nach dem Krieg musste ich meine ganze Software im Kopf austauschen. Alles bislang Edle war nun verwerflich. Und alles Verwerfliche war jetzt edel. Wie sollte man sich da zurechtfinden.