Hamburgs Bischöfin Kirsten Fehrs spricht über den Ahrensburger Missbrauchsskandal, Fehler der Kirche und das Leid der Opfer.

Ahrensburg/Hamburg . Es geht um "unfassbare menschliche Abgründe". Bischöfin Kirsten Fehrs fand deutliche Worte über den Ahrensburger Missbrauchsskandal, als sie in ihrer Predigt am Palmsonntag in der Schlosskirche Versöhnung suchte und die Opfer sexueller Übergriffe um Vergebung bat. Aber es geht auch um Mitschuld, um Verantwortung, um Konsequenzen, will die Nordkirche Lehren ziehen aus diesem in der evangelischen Kirche bislang beispiellosen Skandal. Ein Teil der Aufarbeitung beginnt heute vor dem Kirchengericht (siehe unten). Morgen, am Buß- und Bettag, wird Fehrs ab 19 Uhr zum zweiten Mal mit Bischof Gerhard Ulrich zum Gottesdienst in die Schlosskirche kommen. Das Abendblatt hat vorab mit der Bischöfin gesprochen.

Hamburger Abendblatt: "Fehrs sucht Versöhnung" titelte das Abendblatt im März dieses Jahres über Ihren bevorstehenden Besuch in Ahrensburg. Nun kommen Sie erneut zur einer Predigt in die Schlosskirche. Haben Sie sich noch nicht mit der Kirchengemeinde ausgesöhnt?

Kirsten Fehrs: Versöhnung ist ein langer Prozess, in dem es vorrangig um das Leid der Opfer geht. Aufeinander zuzugehen und miteinander zu reden - das ist etwas, worauf es auch in den kommenden Jahren weiter ankommen wird. Die Aufarbeitung und Verarbeitung begann schon weit vor dem Gottesdienst im April und geht weiter, vor allem natürlich in Ahrensburg. Ich begrüße es daher sehr, dass Bischof Ulrich und ich nach unserem Besuch am Palmsonntag nun auch am Buß- und Bettag zur Predigt eingeladen wurden. Die Krisen-AG und alle, die sich um eine Versöhnung auch in der Gemeinde bemühen, wünschen sich unsere Präsenz vor Ort. Und darüber freuen wir uns.

Beschreiben Sie bitte Ihr aktuelles Verhältnis zu den amtierenden Pastoren. Immer wieder ist die Rede davon, die Beziehung sei von Misstrauen gegenüber einigen Geistlichen geprägt.

Fehrs: Die Pastorinnen und Pastoren vor Ort engagieren sich mit viel Kraft dafür, dass die Gemeinde wieder ins Gleichgewicht findet und dafür danke ich ihnen. Wie Ihre Frage zeigt, gehört zum Thema sexueller Missbrauch aber leider auch immer eine Spaltungstendenz, so beschreiben es Experten. Seitdem die ersten Missbrauchsfälle im Mai 2010 bekannt wurden, geht es um die Frage: Wer hat was wann gewusst? Zu Recht. Das fragen nicht nur die amtierenden Pastoren und die Menschen in der Gemeinde, sondern darum kümmern sich auch das Kirchenamt, die Kirchenleitung, der Kirchenkreis. Und auch mich treibt diese Frage ständig um. Wir wollen uns gerade nicht distanzieren, sondern hinsehen und selbstkritisch sein, daher haben wir auch die unabhängige Kommission eingesetzt. Wir wissen, es wurden Fehler gemacht, vor allem in der Dokumentation dessen, wer wann mit wem worüber gesprochen hat. Und darunter leidet die Aufklärung bis heute. Aber wir dürfen der Spaltung keinen Raum geben. Sonst greift ein Mechanismus, der verheerend wirkt bei sexuellem Missbrauch: Die Opfer geraten aus dem Blickfeld.

In der Predigt am Palmsonntag baten Sie die Opfer um Vergebung für das, was ihnen im geschützten Raum der Kirche angetan wurde. Von 13 Ihnen bekannten Opfern war im März 2012 die Rede gewesen. Ist deren Zahl inzwischen größer geworden?

Fehrs: Wir müssen die Opfer immer wieder um Vergebung bitten, denn wir erkennen das Leid an, das durch den jahrelangen Missbrauch so vielen Menschen angetan wurde. Das hat Bischof Ulrich zuvor bereits getan, und auch mir war es ein tiefes Bedürfnis, das unmittelbar nach meinem Amtsantritt öffentlich auszusprechen. Ich bin dankbar, dass sich so viele der Opfer an mich persönlich gewandt haben. Bisher habe ich mit mehr als einem Dutzend Opfern gesprochen. Doch ich gehe in Ahrensburg davon aus, dass es noch mehr Betroffene gibt. Neben mir stehen auch die Ombudsfrauen der Nordkirche als Ansprechpartnerinnen zur Verfügung. Vor allem steht der Verein Missbrauch in Ahrensburg bereit als Vermittler für Hilfesuchende, die überlegen, sich an uns zu wenden. Ich möchte sie dazu ermuntern, diesen Schritt zu wagen.

Heute beginnt vor dem Kirchengericht die Verhandlung gegen den ehemaligen Kollegen des Hauptbeschuldigten Dieter K. Wird dieser Richterspruch, unabhängig vom Ausgang, den Schlussstrich unter der Aufklärungsarbeit der Kirche markieren?

Fehrs: Das, was in der personalrechtlichen Auseinandersetzung mit dem Fall möglich ist, haben wir verfolgt. Wenn uns darüber hinaus neue Fakten darüber vorliegen sollten, beispielsweise durch die Arbeit der unabhängigen Kommission, wird die Situation neu bewertet und möglicherweise erneut ermittelt. Das hat auch Bischof Ulrich immer wieder betont. Unabhängig davon wird es in der Aufarbeitung keinen Schlusspunkt geben. Denn nur dann können wir beispielsweise immer wieder deutlich machen, dass schon den ersten Verdachtsmomenten auf sexuelle Übergriffe nachgegangen werden muss.

Sind Sie über die Arbeit der unabhängigen Kommission informiert? Und wie viel Geld gibt die Nordkirche für deren Aktivität aus?

Fehrs: Ich weiß, dass die Kommission ihre Arbeit aufgenommen hat. Über Einzelheiten, beispielsweise die Gesprächspartner und den Zeitplan, bin ich nicht informiert. Ich hoffe, dass wir ab Frühjahr einen Zwischenbericht bekommen. Die Nordkirche bezahlt dafür den Experten ein Honorar, dass es ihnen erlaubt, angemessen zu arbeiten, aber auch nicht so viel, dass es ihre Unabhängigkeit gefährden könnte.

Thema Entschädigungszahlungen. Wie viele Fälle wurden geprüft, an wie viele Menschen sind bereits Zahlungen in welcher Höhe geleistet worden?

Fehrs: Das Leid der Missbrauchsopfer ist ein lebenslanges Leid, das finanziell kaum entschädigt werden kann. Aber es muss eine Anerkennung und Hilfeleistung geben. Wir haben daher gemeinsam mit Opfern und dem Verein Missbrauch nachgedacht und einen Weg gefunden, wie individuelle Unterstützungsleistungen für Opfer in Anerkennung ihres Leides und in Verantwortung für die Verfehlungen der Institution aussehen könnten. Zur Zeit laufen erste Kontakte im sogenannten Lotsenprogramm. Das ist eine erste Stufe in Gestalt einer Beratungsmöglichkeit, in deren Rahmen Lotsen und Lotsinnen Betroffene informieren, mit ihnen konkrete Unterstützungsleistungen erarbeiten. Anschließend wird eine vierköpfige Kommission mit den Betroffenen und/oder deren Lotsen Unterstützungsleistungen vereinbaren. Wie hoch die sein werden, wissen wir naturgemäß nicht. Ich freue mich allerdings, dass die Kirchenleitung zugestimmt hat, dass diese Leistungen individuell bemessen werden. Das ist ein ganz neuer Weg und sicher ein weiterer Schritt in der Aufarbeitung.

Die evangelische Kirche hatte angekündigt, als eine Konsequenz des Skandals einen Vorstoß zur Abschaffung der Verjährungsfristen bei Sexualstraftaten zu unternehmen? Wie weit sind Sie damit?

Die evangelische Kirche hat sich in Berlin am sogenannten Runden Tisch der Bundesregierung zum Thema sexueller Missbrauch mit dafür eingesetzt, dass die Rechte von Opfern gestärkt werden. Die zivilrechtlichen Verjährungsfristen sollen von drei auf 30 Jahre erhöht werden. Ich habe Verständnis dafür, dass die Ausweitung der Fristen von sexuellem Missbrauch auch im Strafrecht für die Opfer eine existenzielle Frage nach Gerechtigkeit darstellt. Daher kann ich sehr gut nachvollziehen, dass Opfer eine Ausweitung der Verjährungsfristen fordern. Die Einschätzung der juristischen Konsequenzen, wie die Ausweitung des Strafmaßes, ist nicht Sache der Kirche, sondern der Politik beziehungsweise des Gesetzgebers.