Bettine Wyszomirski, Öberärztin an der Tagesklinik Ahrensburg, über die Zunahme psychischer Erkrankungen und Vorbeugemaßnahmen.

Ahrensburg. Jünger sind sie geworden, die Patienten. Und es sind häufiger Männer. Der Andrang wächst stetig - aber auch die Möglichkeiten, Patienten erfolgreich mit Medikamenten zu behandeln. Das sind nur ein paar der Dinge, die sich seit dem 2. Juli 1992 verändert haben - jenem Tag vor genau 20 Jahren, an dem in Ahrensburg die psychiatrische Tagesklinik gegründet wurde. Sie war damals eine der ersten Einrichtungen dieser Art in Schleswig-Holstein. Bettine Wyszomirski ist seit zehn Jahren Oberärztin der Klinik, dort tätig ist sie schon seit 18 Jahren. Anlässlich des Jubiläums sprach sie mit dem Abendblatt unter anderem über die Tendenz, dass immer mehr Jugendliche psychisch krank sind (wir berichteten).

+++ Mehr Kinder und Jugendliche psychisch krank +++

+++ Seit 18 Jahren Psychiaterin +++

Hamburger Abendblatt: Frau Wyszomirski, sie kennen die Klinik seit ihrer Anfangszeit. Was hat sich seitdem verändert?

Bettine Wyszomirski: Es gibt deutlich mehr Menschen als früher, die aufgenommen werden wollen. Die Zahl der Menschen mit psychischen Erkrankungen nimmt von Jahr zu Jahr zu. In Schleswig-Holstein führt das dazu, dass Patienten mittlerweile 14 Wochen auf einen ambulanten Psychotherapie-Behandlungsplatz warten müssen. Auch bei uns sind die Wartezeiten länger geworden. Aktuell müssen Patienten vier Monate auf ein Vorgespräch warten. Bis zu einer Einweisung vergehen dann noch einmal acht Wochen. Akute Fälle werden aber eingeschoben.

Warum werden immer mehr Menschen psychisch krank?

Wyszomirski: Das ist ein weltweiter Trend. Er hat mit Veränderungen in unserer Gesellschaft zu tun. In der Arbeitswelt muss mehr in kürzerer Zeit geschafft werden, oft gilt das Prinzip schneller, höher, weiter. Außerdem haben sich auch die familiären Strukturen verändert. Mehr Menschen leben als Singles. Einsamkeit kann auch krank machen.

Kommen heute andere Menschen zu Ihnen als Anfang der 90er-Jahre?

Wyszomirski: Ja. Die Patienten werden immer jünger. Es kommen häufiger Menschen, die Anfang 20 sind. Die nach dem Sinn des Lebens, nach einer konkreten Aufgabe suchen. Vielen Menschen fällt es heute anscheinend schwerer, sich für einen Studienplatz oder für eine Ausbildung zu entscheiden und das auch durchzuziehen.

Haben Sie eine Erklärung dafür?

Wyszomirski: Offenbar hat sich die Fähigkeit verändert, mit Stress umzugehen. Ein Teil der jungen Menschen bekommt von ihren Eltern zuviel abgenommen. Und das ist fatal. Denn dann haben die jungen Leute Scheu, Fehler zu machen und Entscheidungen zu treffen. Auf der anderen Seite sind die Anforderungen der Gesellschaft höher geworden, was die Belastbarkeit im Job und Flexibilität anbelangt. Beides zusammen kann dazu führen, dass junge Leute früh Depressionen entwickeln.

Und die älteren Patienten? Haben sie heute andere Probleme als vor 20 Jahren?

Wyszomirski: Mehr Menschen als früher leiden unter dem sogenannten Burn-out-Syndrom. Also einem Erschöpfungszustand, der Ausdruck einer depressiven Störung sein kann. Es betrifft hauptsächlich Menschen zwischen 35 und 55 Jahren, also jene, die mitten im Berufsleben stehen.

Was führt zu Burn-out?

Wyszomirski: Überforderung bei der Arbeit. Oder das Unvermögen, mit viel Arbeit umzugehen. Viele Menschen haben es verlernt, Pausen zu machen und Prioritäten zu setzen. Für manche ist es auch schwierig, Arbeit abzugeben.

Wen betrifft das stärker - Frauen oder Männer?

Wyszomirski: Beide gleichermaßen. Der Unterschied zu früher ist, dass sich Männer so etwas heute eher eingestehen als vor fünf oder zehn Jahren. Grundsätzlich kommen seit einigen Jahren deutlich mehr Männer zu uns. Zurzeit haben wir sieben Männer und neun Frauen in Behandlung. Früher waren ein oder zwei Männer in den Gruppen, oft auch gar keiner. Die Veränderung hat damit zu tun, dass es mittlerweile nicht mehr so ein Stigma ist, wenn man psychiatrisch oder psychotherapeutisch behandelt wird. Außerdem ist das Männerbild heute ein anderes als vor 20 Jahren, weil sich deren Rolle in der Familie auch verändert hat.

Die Welt und die Patienten haben sich stark verändert - die Behandlungsmethoden auch?

Wyszomirski: Ja, da hat es revolutionäre Entwicklungen auf allen Gebieten gegeben. Wir haben zum Beispiel neue Medikamente, die wesentlich weniger Nebenwirkungen haben. Wir machen auch bei der psychotherapeutischen Behandlung vieles anders, also bei den Gesprächen zwischen den Patienten und den Psychiatern und Psychotherapeuten.

Was?

Wyszomirski: Früher haben wir uns stärker mit dem Symptom selbst befasst. Heute befassen wir uns mehr mit den Ressourcen, also den Stärken, die ein Mensch hat. Und wie er sie nutzen kann, um wieder ein glücklicheres Leben zu führen. Gefühlvoll und sensibel zu sein kann zum Beispiel eine Stärke sein. Man muss sie nur kennen.

Die Klinik in Ahrensburg war eine der ersten Tageskliniken für psychisch kranke Menschen in Schleswig-Holstein. Inzwischen gibt es immer mehr solcher Kliniken. Was machen sie anders als stationäre Psychiatrien?

Wyszomirski: Manche Menschen müssen natürlich stationär behandelt werden, sich also für eine bestimmte Zeit in einer Klinik aufhalten. Wenn es der Zustand ermöglicht, ist die Behandlung in einer Tagesklinik aber sehr sinnvoll. Die Patienten können zum Beispiel morgens brühwarm von ihren Problemen erzählen, die sie zu Hause haben. Und abends gleich Strategien anwenden, die sie bei uns gelernt haben.

Nach neuen Statistiken wird jeder dritte Deutsche einmal in seinem Leben depressiv krank. Wesentlich weniger lassen sich aber ärztlich behandeln. Wie erkenne ich eine Depression?

Wyszomirski: Häufig reagiert zuerst der Körper. Zum Beispiel mit Magenschmerzen, Herzrasen oder häufigem Schwitzen. Beim Arzt kommt dann oft heraus, dass der Körper gesund ist, aber eine psychische Störung vorliegt. Andere Symptome sind Antriebslosigkeit, nachlassendes Leistungsvermögen oder das Unvermögen, sich an den kleinen, alltäglichen Dingen zu freuen.

Sind manche Menschen eher veranlagt als andere, depressiv zu werden?

Wyszomirski: Jeder Mensch hat eine innere Verletzbarkeits-Grenze. Wo die liegt, hat auch mit hormonellen Gegebenheiten, mit dem Stoffwechsel des jeweiligen Menschen zu tun. Aber auch damit, wie er aufgewachsen ist. Ein Mensch, der mit einer depressiven Mutter oder einem alkoholkranken Vater aufgewachsen ist, ist stärker gefährdet.

Kann man einer Depression vorbeugen?

Wyszomirski: Ja. Jeder sollte soziale Kontakte pflegen, auf eine gesunde Balance zwischen Arbeit und Freizeit achten. Und versuchen, positiv-konstruktiv mit Problemen umzugehen. Es ist erwiesen, dass positiv denkende Menschen länger leben. Und positives Denken kann man lernen. Nicht zuletzt sind Sport und gesunde Ernährung wichtig. Beides führt dazu, dass Endorphine im Gehirn ausgeschüttet werden, die für eine gesunde Psyche wichtig sind.

Die Ahrensburger Klinik liegt mitten im Zentrum. Haben sie damit positive Erfahrungen gemacht, sind Sie gut von den Bürgern angenommen worden?

Wyszomirski: Ich habe nicht das Gefühl, dass wir unerwünscht sind. Das Verhältnis mit den Nachbarn ist gut. Die Patienten sind froh, dass die Tagesklinik zentral, aber nicht wie auf dem Präsentierteller liegt.