Verwöhnung und Verwahrlosung sind laut Ärzten die Ursachen. Kaum Grenzen durch Eltern.. Gesellschaft muss familienfreundlicher werden.

Ahrensburg. Ein Junge, 18 Jahre alt, macht eine Ausbildung - doch er kommt morgens nicht aus dem Bett, ist antriebslos und meistens düster gestimmt. Er verliert seinen Job, die Freundin trennt sich, der Junge kommt wegen Depressionen in die psychiatrische Klinik. Ein Mädchen, 20 Jahre alt, ist schon Mutter - doch sie ist komplett überfordert, außerdem arbeitslos. Das Jugendamt schreibt ihr eine Therapie vor. Ein Schüler, 16 Jahre alt, verbringt die Nächte vor dem Computer und spielt Spiele. Er wird in der Schule auffällig, die Mutter bringt ihn zur Suchtberatung, wo festgestellt wird, dass er eine neue Form von Abhängigkeit hat.

Fälle wie diese, die in Stormarn passiert sind, gibt es im Kreis immer häufiger. "Wir spüren den Trend, dass immer mehr junge Menschen psychisch krank werden und behandelt werden müssen", sagt Gerald Wunderlich, Leiter der sozialen Dienste des Kreises. Eine Tendenz, die auch in Beratungsstellen für psychische Probleme und Suchtprobleme, in psychiatrischen Ambulanzen und Krankenhäusern festgestellt wird. Wie im Heinrich-Sengelmann-Krankenhaus in Bargfeld-Stegen, in dem psychisch kranke Menschen behandelt werden. "Pro Monat stellen sich bei uns etwa 20 junge Menschen vor, 18 oder 19 Jahre alt, die behandelt werden wollen", sagt die Leitende Oberärztin Hannelore Labentsch. Vor fünf Jahren seien es noch "fünf oder sechs" junge Patienten pro Monat gewesen.

Im Kreis Stormarn zeigt sich dieser Trend anhand konkreter Zahlen: Während Ende 2010 noch 68 Kinder und Jugendliche gezählt wurden, die wegen psychischer Probleme in ambulanter Behandlung waren, so waren es Ende 2011 schon 84 Fälle. Eine Zahl, die laut Gerald Wunderlich die allgemeine Entwicklung zeigt.

Warum gibt es immer mehr dieser jungen Patienten, welche Probleme haben sie? Laut Hannelore Labentsch, die seit 25 Jahren in Bargfeld-Stegen arbeitet, hat das Problem mit zwei Worten zu tun: "Verwöhnung und Verwahrlosung". Labentsch: "Es gibt von Eltern oft zu wenig Zuwendung und Wertevermittlung". Während manche Eltern schlicht kaum Zeit mit ihren Kindern verbringen, etwa weil sie beide viel arbeiten, machen andere einen anderen Fehler: "Eltern wollen heute oft Freunde und Kumpels sein". Sie setzten zu wenig Grenzen - und das hat ähnliche Folgen wie Vernachlässigung. "In beiden Fällen bildet sich keine Identität heraus. Die Jugendlichen wissen nicht, wer sie sind und welche Ziele sie haben", sagt die Ärztin.

Eine ähnliche Beobachtung macht Bettine Wyszomirski, Oberärztin in der psychiatrischen Tagesklinik in Ahrensburg. Auch sie berichtet von immer mehr jungen Patienten, häufig Anfang 20. Und sie sagt: "Menschen fällt es heute anscheinend schwerer, sich für einen Studienplatz oder eine Ausbildung zu entscheiden und das auch durchzuziehen." Die Probleme hätten auch mit dem Erziehung zu tun: "Ein Teil der jungen Menschen bekommt von ihren Eltern zuviel abgenommen. Und das ist fatal. Denn dann haben die jungen Leute Scheu, Fehler zu machen und Entscheidungen zu treffen."

Elterliche Zuwendung, die nicht richtig dosiert ist - sie führt offenbar zu Fällen wie jenem des 18-Jährigen, der seine Ausbildung nicht zu Ende bringt, oder jenem der 20-Jährigen, die mit ihrer Mutterrolle, ihrem Leben insgesamt, überfordert ist. Andere Jugendliche, wie jener 16-Jährige, der sich nur noch mit Computerspielen beschäftigt, werden in den beiden Sucht-und Drogenberatungsstellen Nord- und Mittelstormarn beraten, die in Bad Oldesloe und Ahrensburg sind. Ute Hellberg arbeitet als Psychologin in der Beratungsstelle Bad Oldesloe. Wie sie sagt, kommen immer mehr Jugendliche in die Beratungsstellen- und sie hat eine ähnliche Erklärung dafür wie Hannelore Labentsch. "Verwöhnung und Verwahrlosung sind zwei Tendenzen, die wir auch feststellen. Richtige Grenzen zu setzen, fällt vielen Eltern schwer."

Jugendliche, die zur Beratung kommen, hätten häufig "Orientierungsprobleme", die in eine Drogensucht münden. Dabei gehe es "sehr viel um Kiffen. Aber auch um neuere Suchten, etwa Internetabhängigkeit".

Ute Hellberg betont, dass Jugendliche heute zu viel "allein gelassen" würden, dass Bezugspersonen fehlen. Das habe aber auch mit dem Arbeitsmarkt zu tun, dessen Bedingungen sich verschärft hätten. Eine Auffassung, die auch Bettine Wyszomirski teilt - gerade von jungen Leuten werde heute verlangt, viel in kurzer Zeit zu schaffen, flexibel zu sein.

Einen Zusammenhang zwischen dem Arbeitsmarkt und psychischen Problemen sieht auch Gerald Wunderlich. "Früher hatte man in den Familien noch einen Ernährer. Heute müssen oftmals beide Elternteile arbeiten. Das hat aber die Folge, dass sie abends müde zurück kommen und unter dem Strich weniger Zeit für die Kinder haben." Die Folge könnten "Bindungsstörungen" sein, die sich dann im jugendlichen Alter bemerkbar machen. Dazu trügen auch die häufigeren Scheidungen bei. "Jugenderkrankungen haben ihre Wurzeln in der Kindheit", sagt er.

Gerald Wunderlich betont auch, dass es keinen Sinn habe, frühere Zeiten zu glorifizieren. Stattdessen müsse man Antworten für die heutige Zeit finden. Dazu könnten gerade jene Firmen etwas beitragen, die die Situation der Familien so stark verändern. "Sinnvoll sind zum Beispiel Kindergärten in Firmen. Dann kann eine Mutter, ein Vater einfach mal zu dem Kind herunter gehen", sagt Wunderlich.

Grundsätzlich müsse die Gesellschaft "einfach familienfreundlicher" werden, sagt er. Denn so könne vielen Problemen vorgebeugt werden. "Die Entwicklung kann man umkehren."