Ärzte beklagen, dass Stormarner Kinder bei Untersuchungen in den Bereichen Verhalten, Sprache und Gewicht immer mehr Defizite haben.

Ahrensburg. In ihrer 26-jährigen Tätigkeit als Kinder- und Schulärztin im Stormarner Gesundheitsamt hat Dr. Renate Freimark Hunderte Kinder kurz vor ihrer Einschulung untersucht. Wie ist ihre Sprache entwickelt, wie die Motorik? Wie gut können die Kinder sehen und hören, wiegen sie zuviel oder zuwenig? Ihr Fazit: In den vergangenen fünf Jahren sind in Stormarn immer mehr Kinder mit Verhaltens- und Sprachauffälligkeiten sowie Ernährungsstörungen eingeschult worden.

Der Trend im Kreis wird durch den jetzt veröffentlichten Bericht des Landesministeriums für Arbeit, Soziales und Gesundheit zur Einschulungsuntersuchung für das Schuljahr 2009/2010 bestätigt. Wie schon in den vergangenen fünf Jahren weist jedes zweite von fast 25 000 Kindern in Schleswig-Holstein kurz vor der Einschulung mindestens eine Auffälligkeit in den Bereichen Sehen, Hören, Körpergewicht, Motorik/Koordination, Sprache oder Verhalten auf. Einige Parameter liegen in Stormarn nach Angaben des kinder- und jugendärztlichen Dienstes sogar über dem Landesschnitt: Laut der internen Auswertung der Untersuchungen von 2128 Einschülern ist die Zahl der übergewichtigen Kinder - überwiegend Jungs - von sechs Prozent im Jahr 2006 auf 10,4 Prozent im Schuljahr 2009/2010 geklettert. Das sind 0,7 Prozent mehr als im Landesschnitt. Und: Nur in Dithmarschen, Neumünster und Pinneberg haben in Schleswig-Holstein noch mehr Jungs Probleme mit der Motorik und der Koordination.

"Das ist eine bittere Erkenntnis", sagt Schulärztin Freimark. Zwar geht nach der internen Auswertung der Einschulungsuntersuchung 2010/2011 die Zahl der adipösen, also übergewichtigen, Kinder schon wieder zurück. "Insgesamt aber steigt sie seit Jahren mehr oder weniger stetig", sagt Freimark. Dabei gab es fast nirgends sonst im Bundesland so wenig propere "Einschüler" wie in Stormarn - zumindest bis 2006. Die Ursachen für den drastischen Anstieg? So vielschichtig wie spekulativ. "Natürlich hängt das mit Bewegungsmangel und Fehlernährung zusammen", sagt Freimark. "Was wir früher auf der Straße gelernt haben, wird heute therapiert."

Mehr verhaltensauffällige und mehr dicke Kinder - diesen Problemen müssen sich zwangsweise auch die Schulen stellen. Jörg Peters, Leiter der Johannes-Gutenberg-Gesamtschule in Bargteheide, beobachtet seit Jahren, dass viele frisch eingeschulte Kinder deutlich zuviel Pfunde auf den Rippen haben. "Die Kleinen kriegen von ihren Eltern oftmals nicht etwa ein Frühstück, sondern Geld mit in die Schule", sagt Peters. Um zu verhindern, dass sich die Jüngsten dann mit süßen Dickmachern voll stopfen, biete der Schulkiosk verstärkt gesunde Kost an, Vollkornbrötchen und Obst etwa. Frühzeitig, bereits im Kindergarten, würden zudem Schüler, die unter emotionalen und sozialen Störungen leiden, gefördert. So können die betroffenen Mädchen und Jungen in den Starter-Klassen beim "Abenteuerturnen" ihre Motorik und Wahrnehmung schulen.

Neben dem Übergewicht sind Verhaltensauffälligkeiten und Sprachstörungen die zwei weiteren großen "Baustellen" im Kreis, sagt Renate Freimark. So habe sich im Vergleich zum Vorjahr die Zahl der Kinder, die unter Hyperaktivität oder emotionalen Störungen leiden, zwar verdoppelt. Fast jedes zehnte angehende Schulkind in Stormarn ist betroffen - in Schleswig-Holstein sind es aber sogar noch fünf Prozent mehr. Dafür hat beinahe jeder dritte Einschüler in Stormarn (29,3 Prozent) mit Sprachstörungen wie Stottern und Stammeln zu kämpfen (landesweit: 25,4 Prozent). "Vor allem sind Jungs betroffen, die Probleme mit der Konzentration und Ausdauer haben und unter Frustrationen leiden", sagt Freimark. Die meisten Kinder mit solchen Diagnosen kämen schon vor der Einschulung in therapeutische Behandlung.

In Pädagogenkreisen werden die Ursachen für das Phänomen viel diskutiert. Warum immer mehr Kinder übergewichtig, zappelig und unaufmerksam werden - darüber kann Marina Umlauff, Leiterin der Reinbeker Grundschule Mühlenredder, auch nur spekulieren. "Familiäre Trennungssituationen, die mediale Reizüberflutung, das Internet, da spielt alles Mögliche mit hinein." An ihrer Schule hätten die Lehrer indes weniger mit übergewichtigen, sondern deutlich häufiger mit verhaltensauffälligen Kindern zu tun. Die sollen vor allem durch geregelte Abläufe, einen differenzierten Unterricht, Lernwerkstätten, durch kleine Gruppen und vor allem die frühe Einbeziehung der Eltern gezielt gefördert werden.

Es gibt aber auch positive Nachrichten: Die Stormarner Erstklässler in spe sind besonders sprachkompetent. Nur 3,5 Prozent der untersuchten Kinder verfügen über "keine guten Kenntnisse" der Unterrichtssprache Deutsch, hingegen sprechen fast 80 Prozent Deutsch "perfekt" - und das ist ein Spitzenwert in Schleswig-Holstein.