Unser Dorf: Das Abendblatt zu Besuch in Stormarns Gemeinden. Heute: Rethwisch. Hier bauen alle gemeinsam Häuser und hier wurde die Immenhof-Reihe neu verfilmt

Sie kenne ich nicht. Wer sind Sie denn?", fragt Gisela Hoge und mustert neugierig den blonden Mann, der vor ihr steht. Die 65-Jährige ist Ehrenbürgermeisterin von Rethwisch und kennt laut eigener Aussage 95 Prozent der rund 1150 Einwohner. "Und wenn jemand neu ist, dann frage ich ihn direkt, wer er ist", sagt Hoge, die von 1994 bis 2008 Bürgermeisterin und insgesamt 30 Jahre in ihrer Gemeinde kommunalpolitisch aktiv war. Dann lächelt sie. "Ich habe sie schon mal beim Joggen gesehen", sagt sie. "Wir haben uns freundlich gegrüßt."

Der Mann ihr gegenüber nickt. Es ist Michael Kraus. Der 31-Jährige arbeitet bei der Autobahnpolizei Bad Oldesloe und ist vor zehn Jahren nach Rethwisch gezogen. Zwischenzeitlich habe er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern mal zwei Jahre lang in einem Ort rund zehn Kilometer weiter südlich gelebt. "Aber das war nur ein Wohndorf. Die Leute sind alle zum Arbeiten nach Hamburg gefahren", sagt er. "Da gab es keine Dorfgemeinschaft, so wie hier." Michael Kraus kehrte mit seiner Familie nach Rethwisch zurück und begann, sich im Festausschuss der Gemeinde zu engagieren. Mit neun weiteren Rethwischern ist er für die Organisation des Dorffestes zuständig.

Wie groß der Zusammenhalt der Rethwischer ist, haben sie beim Bau ihres Gemeinschaftshauses mit Sportlertrakt und einem Kindergarten für zwei Gruppen bewiesen. 14 Jahre ist das inzwischen her. Doch wenn die Rethwischer davon erzählen, scheint es, als sei es erst gestern gewesen. "Alle haben mitgeholfen", sagt Adalbert Wolfgramm. Die Augen des 75-Jährigen strahlen vor Begeisterung. "Das hat richtig Spaß gemacht", sagt er.

Die Bauern stellten ihre Trecker zur Verfügung, ein Dachdecker übernahm die Leitung der Arbeiten auf dem Dach. Die anderen Bürger wurden angelernt. Die Frauen kochten Mittagessen und brachten Kaffee und Kuchen. "Alle haben kostenlos gearbeitet", sagt Gisela Hoge. "Da hat keiner Nein gesagt. Das war einmalig. Wir haben dadurch 400 000 Euro gespart."

In den sieben Ortsteilen der Gemeinde leben insgesamt 1150 Menschen

Das Gemeinschaftshaus steht in Rethwischdorf, dem Zentrum der Gemeinde. Hier treffen sich die Rethwischer morgens, um in der Bäckerei an der Hauptstraße ihre Brötchen zu kaufen. Hier treffen sie sich mittags, um ihre Kinder aus dem Kindergarten abzuholen. Und hier treffen sie sich am Nachmittag, um gemeinsam auf dem Sportplatz Fußball zu spielen.

Insgesamt besteht die Gemeinde aus sieben Ortsteilen. Außer Rethwischdorf sind das noch Klein Boden, Treuholz, Steensrade, Tralauerholz, Frauenholz und Altenweide. Einige Ortsteile bestehen jedoch nur aus wenigen Häusern. Frauenholz ist beispielsweise vollständig im Besitz der Familie Schwarz. "Hier leben 16 Erwachsene und zwei Kinder", sagt Werner Schwarz. Der Präsident des Bauernverbandes Schleswig-Holstein betreibt in Frauenholz auf seinem Hof in dritter Generation Ackerbau und eine Schweinemastanlage. Die Abwehrhaltung der Menschen gegen diese Art der Tierhaltung sei ein großes Problem, sagt er. In Rethwisch werde der Betrieb jedoch akzeptiert. Schwarz: "Die Frage ist nur, wie lange noch."

Etwas mehr Einwohner zählt Klein Boden. In dem südlichsten Ortsteil der Gemeinde leben knapp 200 Menschen. Eine von ihnen ist Jennyfer Ahlers. Die 29-Jährige ist vor elf Jahren aus Geesthacht zu ihrem Mann nach Rethwisch gezogen. "Die ersten Wochen war es ungewohnt, dass hier nicht alle 15 Minuten ein Bus fährt", sagt sie. Doch die junge Frau fand schnell Gefallen an dem Leben auf dem Land. Ahlers: "Es ist schöner als in der Stadt. Die Leute sind offenherziger."

Insbesondere in Klein Boden herrsche eine besondere Atmosphäre. "Hier weiß jeder von jedem alles. Wenn irgendetwas passiert, verbreitet sich das wie ein Lauffeuer", sagt die Mutter von zwei acht und neun Jahre alten Kindern. Wenn ein Bürger Geburtstag feiere, seien in der Regel alle Klein Bodener eingeladen. Auch als Jennyfer Ahlers vor zehn Jahren heiratete, war das ganze Dorf dabei.

Zwischen den einzelnen Ortsteilen liegen kleine Wälder mit Wanderwegen und große Äcker, auf denen die Landwirte Raps, Weizen, Gerste und Mais anbauen. So auch Bürgermeister Jens Poppinga, der im Ortsteil Treuholz lebt. Dort besitzt der 48-Jährige auch eine Schweinemastanlage mit 2000 Tieren. "Unser Hof ist seit 75 Jahren in Familienbesitz", sagt er. Diesen Sommer ist auch seine Tochter Martina, 25, nach ihrem Landwirtschaftsstudium in den Betrieb eingestiegen.

In Treuholz steht auch ein 100 Jahre altes Herrenhaus. Das im Stil des Neubarocks mit Jugendstilelementen erbaute Gebäude diente bereits als Drehort für die Neuverfilmung der Immenhof-Reihe. Bewohnt wird das Herrenhaus von Gisela Hagen sowie ihrer Tochter und den Enkelkindern. "Ich liebe das Landleben", sagt die 72-Jährige, die 1966 aus Hamburg zu ihrem inzwischen verstorbenen Mann ins Treuholzer Herrenhaus zog. Sie sagt: "Hier bin ich nie einsam. Wenn ich mich allein fühle, setze ich mich auf mein Fahrrad und fahre zu jemandem, den ich kenne." Dafür sei es jedoch auch nötig, sich für die anderen Dorfbewohner einzusetzen und ihnen zu helfen, wenn sie krank sind. Gisela Hagen sagt: "Das macht das Landleben aus. Hier ist noch ein kleines Stück heile Welt."

Beim VfL Rethwisch können Kinder und Jugendliche Jugger spielen

Kerstin und Rainer Dwenger haben sich 1992 in Rethwisch niedergelassen. Im Ortsteil Treuholz bauten sie ein altes Fachwerkhaus zu einem Veranstaltungsort für Hochzeiten, runde Geburtstag oder Firmenfeiern aus. Bis zu 100 Personen können in dem Festsaal mit Kamin feiern. "Unsere Gäste kommen überwiegend aus Reinfeld, Bad Oldesloe, Bargteheide und Umgebung", sagt Kerstin Dwenger. Zudem organisieren ihr Mann und sie in den Räumlichkeiten Flohmärkte, Tanzabende und kulturelle Veranstaltungen. Kerstin Dwenger sagt: "Dank unserer beiden Kinder sind wir von den anderen Dorfbewohnern sofort gut aufgenommen worden."

Eine Möglichkeit, sich in die Dorfgemeinschaft zu integrieren, bieten auch die beiden Freiwilligen Feuerwehren der Gemeinde oder der VfL Rethwisch. Der Sportverein der Gemeinde zählt 480 Mitglieder. Auch Adalbert Wolfgramm ist beim VfL aktiv. "Ich bin in der Wandergruppe und bei den Altsenioren im Fußball", sagt der 75-Jährige. Jeden Mittwoch treffen sich die Altsenioren auf dem Sportplatz. Wolfgramm: "Wer nicht mehr Fußball spielen kann, bereitet für die anderen das Essen vor. So etwas fördert den Zusammenhalt."

Außer Fußball, Handball, Tischtennis, Aerobic, Gymnastik, Wandern und Kegeln können die Mitglieder auf dem Gelände am Buchrader Weg seit neuestem auch Jugger spielen. Dabei handelt es sich um eine Sportart, bei der die Spieler mit Schaumstoffstangen hinter einem Ball herjagen. "Das sieht zwar sehr nach Kampfsport aus, ist aber ganz fair", sagt Torben Krey, der Vorsitzende des VfL. In Rethwisch spielen inzwischen bereits 20 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 12 und 23 Jahren Jugger. Krey: "Mit der Sportart sprechen wir viele Kinder an, die wir sonst nicht erreichen würden."

Mehr Sorgen über neue Mitglieder müssen sich die Freiwilligen Feuerwehren der Gemeinde machen. "Es ist sehr schwierig, junge Leute für unsere Arbeit zu begeistern", sagt Henning Gäde, Wehrführer der Freiwilligen Feuerwehr Rethwischdorf. Nur fünf der 43 Mitglieder sind jünger als 30. Einmal im Jahr organisieren die Feuerwehrleute einen Laternenumzug. "Wir haben jedes Mal etwa 300 Teilnehmer", sagt der 52-Jährige. "Da ist eine tolle Sache."

Henning Gäde ist in Rethwisch geboren und hat die Gemeinde nie für längere Zeit verlassen. Er betreibt Ackerbau und arbeitet außerdem als Mechaniker, natürlich in seinem Heimatort. "Es ist schön, in Rethwisch zu wohnen. Ich mag die Idylle", sagt er, "und dennoch sind wir so dicht an der Autobahn, dass wir Hamburg oder Lübeck schnell erreichen können."

Regine Bolwig ist vor acht Jahren mit ihren Töchtern Nanja, 19, und Jamie-Lee, 10, nach Rethwischdorf gezogen. Sie sagt: "Nachbarschaftshilfe wird hier groß geschrieben. Wenn jemand ein Problem hat, helfen die anderen." Die 46-Jährige hat es bei ihrem Umzug gleich richtig gemacht: "Wir sind zur Bürgermeistersprechstunde gegangen und haben uns persönlich bei Gisela Hoge vorgestellt", erinnert sie sich.

Die Ehrenbürgermeisterin lächelt. Sie sagt: "Wer sich bei uns nicht wohl fühlt, hat selbst Schuld."