Im Heinrich-Sengelmann-Krankenhaus in Bargfeld-Stegen lernen Menschen, wieder zu sich selbst zu finden

Bargfeld-Stegen. Die Zahl der psychischen Erkrankungen in Stormarn steigt. Laut Gesundheitsreport der AOK nahmen die Fehltage um sieben auf 10,5 Prozent zu. Damit sind psychische Probleme bereits die dritthäufigste Ursache für Krankschreibungen. Dennoch ist es nach wie vor ein Tabuthema. Ärzte vermuten hohe Dunkelziffern. Städte wie Bargteheide versuchen daher, mit Streetworkern auf unkonventionelle Art an die Betroffenen heranzukommen, damit sie sich helfen lassen. Die Angst, in die "Klapse" abgeschoben zu werden, ist groß. Aber wie sieht die moderne Behandlung tatsächlich aus? Das Abendblatt sprach mit dem Ärztlichen Direktor des psychiatrischen Heinrich-Sengelmann-Krankenhauses in Bargfeld-Stegen.

Hamburger Abendblatt:

Was bedeutet es, wenn jemand psychisch krank ist?

Matthias Lemke:

Man könnte auch sagen, wenn die Seele krank ist. Es geht um drei große Bereiche: das Denken, das Fühlen, das Handeln. Wenn in einem Bereich über einen längeren Zeitraum Störungen auftreten, die behandelt werden müssten, sprechen wir von einer psychischen Erkrankung.

Welche psychische Erkrankung hat besonders stark zugenommen?

Lemke:

Es gibt eine breite Spanne, von der akuten Lebenskrise, über die schwere Altersdemenz bis hin zu schizophrenen Psychosen. Sie hat seit Jahren weltweit die gleiche Häufigkeit. Aber die Demenzerkrankungen nehmen zu. Vor allem steigt jedoch die Zahl der Depressionen und die der Vorstufen, wie dem Burn-Out-Syndrom.

Der vertraute Mensch verändert sich bei einer Depression. Das macht Angst.

Lemke:

Die Stigmatisierung von psychisch Kranken geht weit zurück. Die Ängste haben mit Nichtwissen zu tun.

So ähnlich wie bei Aids?

Lemke:

Ja, auch da gibt es viel Halbwissen. Das Internet hilft nicht immer. Manchmal verstärkt es die Ängste.

Angst und Halbwissen gibt es besonders im Hinblick auf Psychosen. Was ist eigentlich eine Schizophrenie?

Lemke:

Das hat nichts mit einer gespaltenen Persönlichkeit zu tun. Auch die Intelligenz, die Orientierung und das Gedächtnis sind davon unbeeinträchtigt. Die Patienten haben Wahnvorstellungen, Verfolgungsängste oder halluzinieren. Schizophrenie heißt es, weil bestimmte seelische Funktionen in Ordnung sind und andere nicht.

Und wie steht es um die Berührungsängste? Gibt es Kontakt mit den Patienten? Gibt es Besuchszeiten?

Lemke:

Die Angehörigen können jederzeit kommen. Familie, Freunde spielen eine große Rolle in der Behandlung.

Was sind Alarmsignale einer Depression?

Lemke:

Wir gehen davon aus, dass fünf Millionen Menschen in Deutschland unter behandlungsbedürftigen Depressionen leiden. Und das heißt nicht: Ich fühle mich mal schlecht. 70 bis 80 Prozent der Betroffenen haben Schlafstörungen, ihre Leistungs- und die Konzentrationsfähigkeit nimmt ab. Und dann ist da die Niedergeschlagenheit, die Hoffnungslosigkeit, das Gefühl innerer Leere. Die wenigsten kommen und sagen: Ich habe eine Depression. Sie sagen: Ich habe Rückenschmerzen. Ich kann nicht schlafen. Ich bin nervös. Ich komme im Beruf nicht klar.

Ist die Depression Spiegel unserer Leistungsgesellschaft?

Lemke:

Immer mehr Arbeit muss mit immer weniger Leuten in immer kürzerer Zeit und in besserer Qualität erledigt werden. Bei immer mehr Menschen reichen die Bewältigungsmechanismen nicht mehr aus.

Ist das eine Frage des Alters?

Lemke:

Es gibt auch Jüngere, die diesem Druck und der Flexibilisierung nicht gewachsen sind. Ich kenne viele, die in Hamburg leben und zum Beispiel in München arbeiten. Viele müssen immer erreichbar sein. Sie rufen noch um 22 Uhr ihre E-Mails vom Büro ab.

Wohin schickt der Hausarzt die Betroffenen, die mit Rückenschmerzen kommen und eigentlich psychisch krank sind?

Lemke:

Der Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie hat Medizin studiert und kann körperliche Ursachen ausschließen, zum Beispiel Schilddrüsenerkrankungen, die zu ähnlichen Symptomen führen können. Er kann aber auch Psychotherapien durchführen, so wie die Psychologen, die allerdings keine Medikamente verschreiben. Der Hausarzt wird überlegen, wo der Patient am besten aufgehoben ist.

Bei einem schweren Unfall komme ich in die Notaufnahme. Gibt es so etwas auch für psychisch Kranke?

Lemke:

Ja, wir haben eine Station, die 24 Stunden besetzt ist. Wer einen Nervenzusammenbruch erleidet, kann hierher kommen oder vom Notarzt eingeliefert werden, rund um die Uhr.

Reicht die klinische Versorgung aus?

Lemke:

Es gibt das HSK und zwei Tageskliniken. Im Hamburg gibt es acht psychiatrische Kliniken und Abteilungen.

Die Notfallversorgung ist damit sichergestellt. Und die stationären Angebote entsprechen dem Krankenhausplan des Landes. Ein Problem liegt bei der ambulanten Behandlung. Die Therapeuten sind ausgelastet. Es dauert Monate, einen Termin zu bekommen.

Wer entscheidet, ob ambulant oder stationär behandelt wird? In ein Krankenhaus wie das HSK zu gehen, ist ja ein großer Schritt für die Betroffenen.

Lemke:

Absolut. Aber das ist wie sonst in der Medizin. Bei Rheuma wird auch erst ambulant behandelt. Erst wenn die Schmerzen zu stark werden, kommt der Patient in die Klinik. Und die bietet auch einen seelischen Schutzraum.

Sind die Patienten bereit, eingewiesen zu werden? Das Bild von den Männern mit der Zwangsjacke drängt sich auf.

Lemke:

Die meisten wissen nicht, was wir hier tun. Aber sind sie hier, sagen sie oft: So habe ich mir das nicht vorgestellt. Wir erstellen für jeden einen individuellen Therapieplan. Niemand wird in eine Behandlungsform gepresst.

Viele denken vielleicht: Oh Gott, jetzt komme ich in die Klapse. Gleich kommt einer um die Ecke und bindet mich fest.

Lemke

(lacht): Ja, das Bild hält sich immer noch. Deswegen laden wir wieder zum Tag der offenen Tür ein.

Kommt auch die Nachbarschaft des HSK, um zu sehen, was sich hinter den Kliniktüren abspielt?

Lemke:

Ja. Wir machen auch Projekte mit den Schulen. Die Landfrauen kommen. Und unser Schwimmbad wird stark von Externen frequentiert. Die Menschen aus der Umgebung wissen schon, was hier für Patienten sind und wie sie behandelt werden.

Und, wie werden sie behandelt?

Lemke:

Es gibt vier Säulen. Die erste ist die biologische Therapie. Dazu gehören Medikamente, aber auch die Lichttherapie für Menschen mit Depressionen. Und dazu gehört die Bewegungstherapie. Sie vermittelt Selbstgefühl und Selbstvertrauen. Die zweite Säule ist die psychologische. Was geht in den Menschen vor? Ein Kollege hat mal gesagt: Depressive Menschen haben nicht die Fähigkeit verloren, Freude zu empfinden. Sie finden im Moment nur keinen Zugang dazu. Das ist ein sehr schönes Bild. Wir versuchen, den Menschen zu helfen, wieder Zugang zu sich selbst zu finden. Mit Gesprächen, mit Kunst- und Musik- oder auch mit Gartentherapie.

Und die dritte Säule der Behandlung?

Lemke:

Das ist die psychosoziale Therapie. Dazu gehören die Angehörigen und der Beruf. Manchmal ist es entscheidend, hier etwas zu ändern.

Wie können Sie denn auf dieses private Umfeld Einfluss nehmen?

Lemke:

Wir haben einen Sozialdienst, der mit den Firmen spricht. Die Folge kann ein anderes Arbeitszeitmodell sein oder ein früheres Aussteigen aus dem Beruf. Auch mit den Angehörigen arbeiten wir zusammen, wenn der Patient das will. Es gibt Gruppenangebote und Visiten für Angehörige. Sie nicht einzubeziehen, würde geradezu als Kunstfehler gelten.

Manche sagen: Der Betroffene braucht einen Therapeuten, der Angehörige zwei.

Lemke:

Die Angehörigen brauchen auch Hilfe. Oft herrscht Hilflosigkeit. Es kommen Schuldgefühle auf.

Und die vierte Säule der Behandlung?

Lemke:

Viele Betroffene befinden sich in einer besonderen Lebensphase und fragen nach dem Warum. Deswegen haben wir hier eine Ethik-Gruppe und eine Krankenseelsorge. Unser Haus gehört ja auch zur evangelischen Stiftung Alsterdorf. Diese spirituelle Seite abzudecken, ist mir ein Anliegen.

Ein Herzattacke kommt plötzlich. Eine psychische Erkrankung auch?

Lemke:

Sie können morgens aufwachen und eine Depression haben. Das kann aber auch ein jahrelanger Prozess sein.

Gibt es eine genetische Veranlagung?

Lemke:

Es gibt bei fast allen Krankheiten ein genetisches Risiko. Aber die Krankheit muss nicht ausbrechen, denn die Veranlagung trifft auf die Umwelt. Und in ihr gibt es Faktoren, die gesund erhalten oder krank machen.

Hat das was mit Glück oder Pech zu tun? Oder hat man es in den eigenen Händen?

Lemke:

Zunächst liegt es in den Händen der Eltern. Dann liegt es in der Persönlichkeit. Ein Erwachsener kann sicher Einfluss nehmen, um die Balance herzustellen. Er muss darauf achten.

Kann eine psychische Erkrankung ganz verschwinden?

Lemke:

Es gibt welche, die treten nie mehr auf. Andere verlaufen chronisch.

Aber es ist nicht das endgültige Urteil: Jetzt bist Du psychisch krank. Und jetzt wirst Du es auch immer bleiben.

Lemke:

Nein, auf keinen Fall.

Manche versuchen es auf eigene Faust und holen sich Tabletten.

Lemke:

Das birgt die Gefahr, abhängig zu werden. Valium ist für akute Prozesse ein hervorragendes Mittel. Aber es verliert an Wirkung. Dann muss man mehr nehmen - und immer mehr.

Wie lange bleiben die Patienten?

Lemke:

Durchschnittlich 25 Tage. Bei einigen sind es mehrere Monate, bei anderen nur zwei Tage. Die Kasse bezahlt den Aufenthalt.

Wie oft kommen Patienten wieder?

Lemke:

Manche oft. Das trifft auch auf Alkoholabhängige zu. Hier ist die Dunkelziffer besonders hoch. Wir haben einen Suchtbereich mit fast 70 Betten. Oftmals sind es Doppeldiagnosen: illegale Drogen und Psychosen oder Alkohol und Depression. Andere Menschen kommen einmal und dann nie wieder.