Wie in einer großen Familie leben die Nachbarn in dem Reinbeker Ortsteil - eine Bindung, die in 60 Jahren gewachsen ist

Neuschönningstedt. "Das ist Herr Kehr, der bringt das Pferd." Mit dem Hinweis seiner Nachbarin konnte Heinrich Dierking anfangs nicht viel anfangen. In den Achtzigerjahren bezog der 59-Jährige mit seiner Frau Heidrun Tacke eine Doppelhaushälfte in der Rundstraße Op den Stüben - und lernte gleich das besondere Gemeinschaftsgefühl der Siedlergemeinschaft kennen.

Sein Pferd stellte Henry Kehr, der ein paar Häuser weiter wohnte, abwechselnd auf die Wiese seiner Nachbarn, teilte so seinen "lebendigen Rasenmäher" mit allen Siedlern. "Ich staunte nicht schlecht, als Henry sein Pferd auf unserer Wiese anpflockte und es unser Gras abfutterte", erinnert sich Dierking. Heute weiß er: Das ist es, was sein Zuhause besonders macht. Hier ist man füreinander da.

Ulla Kehr, Henrys Frau, sagt: "Unser Gemeinschaftsgefühl ist gewachsen, wie die Siedlung, in der wir leben." Als eine der ersten bezog die heute 72-Jährige im Jahre 1954 mit ihrer Familie das rote Klinkerhaus Op den Stüben 12. Als Landarbeiter beim Fürsten Bismarck erhielten sie, ihre Eltern und Geschwister hier Wohnraum und wie alle Siedler ein großes Grundstück. "Unsere 1000 Quadratmeter mussten wir bewirtschaften und davon leben." So wurde das winzige Gehalt des Vaters aufgebessert. "Wir hatten alle kaum etwas", erinnert sich Ulla Kehr. "Spaten, Harke, Rechen hat man sich eben vom Nachbarn geliehen." Sie waren eine Notgemeinschaft, sagt die 72-Jährige. So sei der der Zusammenhalt entstanden. Man feierte zusammen Feste, gründete eine Theatergruppe.

"Und dann kamen unsere Kinder", erinnert sich Ulla Kehr. Ihre drei Söhne sind mittlerweile erwachsen, haben selbst Familie und leben noch immer nahe bei den Eltern. "Der eine hat bei uns angebaut, mein anderer Junge wohnt auf dem Grundstück nebenan und mein dritter ein paar Meter weiter im Ort", sagt Ulla Kehr, die verstehen kann, dass ihre Kinder in Neuschönningstedt geblieben sind. "Es ist nicht nur der Zusammenhalt. Wir leben hier sehr ruhig, und trotzdem ist man schnell in Hamburg."

Von den großzügigen Grundstücken in ländlicher Umgebung schwärmt auch Bernhild Ziehm. "In fünf Minuten sind wir hier im Wald. Das hat uns damals bewogen, hier ein Haus zu kaufen", sagt die 60-Jährige. Als sie und ihr Mann noch berufstätig gewesen seien, berichtet sie, hätten die Nachbarn im Winter einfach ihren Schnee mit weggeschippt. "Heute sind wir für die Älteren da", sagt Bernhild Ziehm. So kauft sie mal für Nachbarn ein oder besucht sie. Zum Beispiel Inge und Willy Gronau. "Hier sitze ich im Sommer oft", sagt Bernhild Ziehm. "Zu erzählen haben wir immer was", sagt Inge Gronau, die schon 50 Jahre mit ihrer Familie in der roten Siedlung lebt. Zurzeit reden zum Beispiel alle über die Straßenbauarbeiten in der Siedlung. Im Garten des Ehepaars wird es schnell voll und lebendig. "Mensch, habt ihr tolle Kirschen", ruft Monika Ewert erst über den Gartenzaun und gesellt sich dann zur Runde hinzu. Ein paar Minuten später kommt Manfred Weber um die Ecke. "Ich wollte euch den Brötchenbeutel bringen", sagt er zu Gronaus. Die geben Manfred Weber ihre alten Brötchen für seine Hühner, dafür kriegen sie von ihm frische Eier. Inge Gronau sagt: "Ein Leben ohne meine Nachbarn, in einem anonymen Neubaublock, kann ich mir nicht vorstellen."