Schülerin aus Großhansdorf erlebte das Beben in Neuseeland. Dem Abendblatt schildert sie die dramatischen Sekunden

Großhansdorf. "Mama, Papa, mir geht es gut". Als Livia Martins diese Worte spricht, wissen Olaf und Daniela Martins noch gar nicht, was geschehen ist. Mitten in der Nacht klingelt ihr Telefon in Großhansdorf. Ihre Tochter ist aufgelöst, aber sie beruhigt: "Mir ist nichts passiert". Die 15-jährige Großhansdorferin lebt seit einem Monat in Neuseeland - in Christchurch. In eben dieser Stadt, in der seit einer Woche die Welt aus den Angeln gehoben ist. Am Dienstag, 22. Februar, bebte dort in der zweitgrößten Stadt auf der Südinsel die Erde. Mehrstöckige Häuser fielen wie Kartenhäuser in sich zusammen, begruben Hunderte Menschen. Nach offiziellen Angaben sind bisher 161 Leichen in den Trümmern gefunden worden. Und noch immer werden rund 200 Menschen vermisst.

Livia sitzt mit ihren Freunden beim Mittagessen in der Cafeteria des St. Andrew's College - ein Internat im Norden der Stadt, das sie für ein halbes Jahr besucht. Es ist 12.51 Uhr Ortszeit, als es passiert. "Ohne Vorwarnung gab es plötzlich einen Ruck, stark und aggressiv", erzählt sie noch immer ganz aufgeregt per Videoübertragung dem Abendblatt über das Internet.

"Wir haben wie Hunde unterm Tisch gekauert und geweint"

Livia schaut in panische und angsterstarrte Gesichter, beobachtet wie Tassen, Gläser und Teller von den Tischen rutschen, wie sich binnen weniger Sekunden dicke Risse durch die Wände ziehen. Als plötzlich jemand schreit: "Get under the desks" (geht unter die Tische), reagieren sie und ihre Freundin Polly sofort. "Wir haben dann wie Hunde unterm Tisch gekauert und geweint. Wir wollten raus laufen. Aber eine Lehrerin schrie, dass wir das nicht überleben würden." Livia hat das Gefühl, die Wände des Holzhauses kommen immer näher, wackeln bedrohlich auf sie zu. Ob sie einstürzen? 20 Sekunden dauert das Beben der Stärke 6,3.

Für Livia und ihre Freundin vergeht eine halbe Ewigkeit bis die Erde endlich wieder für kurze Zeit ruht.

1200 Schüler, Lehrer und Angestellte der Schule laufen auf ein nahe gelegenes Sportfeld. Drei Stunden müssen sie dort ausharren. Die Erde kommt nicht zur Ruhe. Im fünf Minuten-Takt bebt der Boden weiter. Es folgen weitere Erdstöße. Livia und die anderen kriechen auf allen Vieren über das Feld, das überall aufbricht und sich in eine Schlammlandschaft verwandelt. Die Wasserrohre der Sprinkleranlage sind gebrochen. "Bleibt weg von den Häusern", hätten die Lehrer immer wieder gerufen, erinnert sich Livia. Doch das College erweist sich als sicher. Die Gebäude halten und bis auf kleine Verletzungen geht es allen gut.

"Einige Supermärkte haben wieder geöffnet, aber alles ist rationiert"

Der Schock aber sitzt tief. Als Livia gegen 16 Uhr endlich in Sicherheit bei ihrem neuseeländischen Vormund Sharon McDonald ist, die Erde aber noch immer regelmäßig wackelt, flüchtet sie unter einen Türrahmen. Das Haus ihres Vormunds hat nichts abbekommen. Doch Strom gibt es in den ersten Stunden nicht. Erst später sehen sie das ganze Ausmaß im Fernsehen, die erschreckenden Bilder aus der Innenstadt, von dem Cashel-Einkaufszentrum und dem Fernsehgebäude, in dessen Trümmern noch immer der Vater eines Mitschülers vermutet wird. "Ein anderer Junge hat seine Mutter verloren", berichtet Livia mitfühlend. Viele andere sind obdachlos geworden. "Das Stadtzentrum ist noch immer gesperrt. Es ist stellenweise total zerstört. Da kommt man nicht mehr rein. Aber das will ich auch alles gar nicht mehr sehen. Es ist so schrecklich, was da geschehen ist", sagt Livia traurig. Nichts sei in Christchurch noch normal. Geschäfte seien geschlossen. "Immerhin haben einige Supermärkte wieder geöffnet, aber alles ist rationiert, damit sich niemand einen Vorrat anlegt und dann andere nichts mehr abbekommen", erzählt sie. Zwar sei alles mittlerweile gut organisiert, dennoch freut sich die Schülerin nun auf eine Auszeit von Christchurch und den Nachbeben. "Ich bekomme jedes Mal noch fast eine Herzattacke und bin froh, wenn ich jetzt endlich mal wieder zur Ruhe komme, ruhig schlafen kann", erzählt die Schülerin, die in der ersten Nacht kein Auge zu bekam.

Nach Hause geht es für die Schülerin der Ahrensburger Stormarnschule noch nicht. Sie wird noch bis Juli in Neuseeland bleiben. Am Dienstag wurden Livia und eine andere deutsche Mitschülerin, Marie Ansmann aus Emstetten, auf die Nordinsel nach Auckland ausgeflogen. Dort besuchen sie nun das St. Cuthbert's College - bis klar ist, wann und wie der Unterricht in Christchurch wieder möglich ist. In den kommenden Wochen seien viele Reparaturen nötig. Auch Livias Internatszimmer ist stark beschädigt.

Erst zwei Tage nach dem Beben durfte Livia kurz in ihr Internatszimmer

Der Boden hat sich nach oben gewölbt, die Wände sind eingerissen. Erst zwei Tage nach dem großen Beben durfte sie für 20 Minuten hinein, ihre Sachen einpacken, endlich wieder in die eigenen Klamotten schlüpfen. "Ich bin jetzt sehr dankbar, dass die Schulrektorin, Mrs. Christine Leighton, jetzt den Flug in den Norden organisiert hat", erzählt Livia, die nun mehrmals täglich mit ihrer Familie in Großhansdorf via Skype telefoniert. Vater Olaf Martins sagt: "Der Kontakt ist seit dem Beben sehr eng geworden. Wir sind froh, dass Livia jetzt in Auckland ist."