Unser Dorf: Die Abendblatt-Regionalausgabe auf Sommertour. Im TV-Dorf Büttenwarder denkt jeder an das Wohl der Gemeinschaft

Büttenwarder. Ein kleines Dorf irgendwo in Stormarn. Die Dorfstraße schlängelt sich verlassen an den wenigen Häusern vorbei, ein Eichhörnchen verschwindet im Licht der Nachmittagssonne in Richtung Friedhof. Hinter einem Haus gackern Hühner.

In der Ferne taucht ein kleiner roter Punkt auf. Langsam tuckert ein wackeliges Gefährt die Alte Poststraße entlang, lässt den Dorfteich rechts und die Kirche links liegen und nähert sich mit letzter Kraft dem Dorfkrug. Vor dem Herzen Büttenwarders stellt Kurt Brakelmann sein Mofa ab. Der Bauer ist ein Ureinwohner des Dorfes, so wie die meisten Menschen hier. Ein Mann um die 50, Junggeselle mit Dreitagebart und lässig schief sitzender Schiebermütze auf dem Kopf.

Mit Adsches Mofa düst auch Bauer Brakelmann durchs Dorf

Brakelmann ist im Dorf berühmt für seine Ideen. Gerade reift wieder eine in seinem Kopf - deutlich zu erkennen an den tiefen Stirnfalten. "Ich sinniere", sagt Brakelmann. Doch diesmal werden seine Gedankengänge unterbrochen. Sein Kumpel und liebster Feind Arthur Tönnsen tritt aus der Tür des Dorfkrugs ins Freie. Sofort erkennt er den Ernst der Lage. "Mensch Brakelmann, das is wohl grad am Arbeiten in dir..." Das Mofa kippt um. Adsche, wie ihn hier alle nennen, inspiziert das Zweirad auf mögliche Schäden. Denn das ist nicht irgendein Mofa. Es ist ein Gemeinschaftsmofa, das er sich mit Brakelmann im zweitägigen Wechsel teilt. Jeder tankt mal voll. Dieses umweltfreundliche und kostengünstige System ist auch eine der genialen Brakelmannschen Ideen. Es hat allerdings noch Schwachstellen, wie Kritiker einwenden, die lieber anonym bleiben wollen. Man wolle ja nicht die Dorfharmonie stören. Das Mofa jedenfalls bleibt immer wieder mit leerem Tank liegen und muss geschoben werden. Deshalb gehen die beiden Büttenwarder Bauern oft zu Fuß. Oder sie sind mit dem großen Trecker unterwegs, Brakelmanns ganzer Stolz, Baujahr 1958 und ausgestattet mit einem Tuning-Schornstein.

Oft steht der Trecker auf dem gepflasterten Hof vor dem Dorfkrug. Denn hier bei Wirt Shorty trifft man sich in Büttenwarder. "Ich weiß nicht, wie viele Lütt un Lütt ich hier schon ausgeschenkt habe", sagt der Wirt. Fast jeder, der an seinen Tresen kommt, bestellt das Büttenwarder Traditionsgetränk: Ein kleines Bier und ein Glas Korn. Wenn es mal später wird - und das wird es hin und wieder - lässt sich Shorty eine knappe Anekdote über seine Abenteuer in der weiten Welt entlocken. Reisen, Wissenschaften, fünf Ehen. Aber das war gestern, der Wirt ist in seine Heimat zurück gekehrt. Und hier will er bleiben. Zum Zapfen, Servieren und Schulden eintreiben. Nur ab und zu gönnt sich Shorty eine kleine Rauferei mit Kuno. Dem Stallknecht ist das ganz recht, denn er ist kein Mann vieler Worte. Und so eine kleine Rauferei löst Probleme mindestens ebenso gut.

"Davon halt ich nix." Brakelmann setzt lieber auf Kommunikation. Meistens mit Adsche. Und am liebsten über seine Visionen. Manchmal reden die beiden aber auch über Frauen. Am liebsten über Gerlinde, ihrer beider erste Liebe. "Ach...", seufzt Brakelmann bei der Erinnerung an die Verflossene. "Ach...", stimmt Adsche ein. Dann gab es da noch Henrike, die Millionenerbin, die eines Tages im Dorf auftauchte. Auch da kamen sich die beiden Junggesellen in die Quere - und am Ende heiratete Henrike einen anderen. Aber die beiden wären nicht echte Büttenwarder, wenn sie nicht trotz des privaten Rückschlag sofort an das Wohl des Dorfes denken würden: Büttenwarder als romantisches Ferienparadies. "Das ist alles so wie früher hier. Das lieben die Leute", schwärmt er. "Romantische Kutschfahrt mit romantischem Picknick an unserem romantischen See."

Wenn Brakelmann mal wieder eine Vision im Blick hat, wie er sagt, stürzt er sich zunächst in Fachliteratur. Dafür fährt er sogar in die Leihbücherei im Nachbardorf Klingsiehl. In dem mit Büttenwarder seit 600 Jahren verfeindeten Nachbardorf wird auch der Stormarn-Cup, ein Fußballturnier zwischen den Dörfern, ausgetragen. Da halten die Büttenwarder zusammen, was sie auch mit einem aus dem Mittelalter überlieferten Schlachtruf ausdrücken: "Wi sünd harder, wi sünd ut Büttenwarder."

Beim Ausarbeiten seiner Ideen verfolgt Brakelmann immer einen wirtschaftlichen Nutzen. Sein Motto: "Man kann machen, was man will. Hauptsache, man findet jemanden, der dafür bezahlt." So wie im "Pflegeparadies" auf seinem Hof, in dem Brakelmann seinen Onkel Krischan betreut. Das kostet nur 50 Euro am Tag, keine Vorauskasse, Brakelmann will niemanden ausbeuten. "Bei mir zahlst du nur, wenn du morgens aufwachst für den Tach, der dann kommt. Wer lebt, der zahlt."

Büttenwarder ist sowieso ein sehr soziales Dorf. Wenn hier gefeiert wird, dann richtig. Einzigartig - und im wahrsten Sinne des Wortes einmalig - ist der Büttenwarder Sommerkarneval. Bürgermeister Dr. Waldemar Schönbiehl kommt heute noch ins Schwärmen, als er in seinem Büro von dem Fest erzählt. "Anfangs war ich zwar sehr skeptisch", sagt der Bürgermeister, der damals 500 Euro für die beste Idee für ein Dorffest ausgelobt hatte. "Doch das wurde ein voller Erfolg." Der Initiator Brakelmann reimte sogar ein Karnevalsgedicht - eine "Büttenrede".

Wegen dieser Dorfgemeinschaft ist Bürgermeister Schönbiehl hier geblieben. Denn es gab durchaus Angebote für den rhetorisch begabten Notar. Den Landesvorsitz seiner Partei hätte er übernehmen können. Die Dorfbewohner sahen ihn schon als Bundespräsidenten. Doch Schönbiehl, der sein Amt im Büttenwarder Rathaus seit 1962 ausübt, lehnte den Ruf nach Kiel ab. "Ich wollte mein Dorf nicht im Stich lassen."

Brakelmann und Adsche schauen sich gerührt an, als sie die Geschichte am Dorfkrug-Tresen hören. Selbst Kuno scheint ergriffen, er nickt bedächtig. Wirt Shorty serviert die nächste Runde Lütt un Lütt für alle. Es ist schon lange dunkel, als zwei Gestalten den Hof in entgegengesetzte Richtungen verlassen. Einer von ihnen schiebt ein klappriges Mofa. Adsche ist dran.