Unser Dorf: Abendblatt-Regionalausgabe auf Sommertour durch Stormarn. In Lütjensee kommt auf 1000 Einwohner eine Tankstelle

Lütjensee. "Hierher!" Martin Natmeßnig steht am Rande einer großen Auslaufwiese. Energisch ruft er die Herde Kärntner Brillenschafe zu sich, die ihn skeptisch aus einiger Entfernung beobachtet. Erst langsam und dann immer entschlossener kommen die Tiere auf ihn zu. Der Betriebsleiter vom Hof Lütjensee lächelt zufrieden, streckt den Tieren durch den Zaun die Hand entgegen. "Das sind alles bedrohte Haustierrassen", sagt Natmeßnig und lässt seinen Blick zu den Angler Sattelschweinen schweifen, die sich wenige Meter entfernt im Matsch suhlen. Auf den Gehwegen tummeln sich Hühner. "Wir halten die Tiere auf dem Hof, um ihren Fortbestand zu sichern."

1989 kaufte Günther Fielmann den Hof und stellte ihn auf ökologische Landwirtschaft um. "Als unsere Kinder klein waren, sind wir mit ihnen immer hierher gefahren und haben die Schafe gefüttert", erinnert sich Gudrun Burkschat, "heute machen wir das mit den Enkelkindern." Vor 16 Jahren war sie von Hoisdorf nach Lütjensee gezogen. "Die Landschaft ist sagenhaft", sagt ihr Mann Lothar, "Lütjensee ist ein Ort mit einem hohen Erholungswert - und liegt trotzdem so dicht an einer Metropole."

Die Nähe zu Hamburg ist ein Aspekt, den viele Lütjenseer an ihrer Gemeinde schätzen. "Ich muss doch mal Bummeln gehen", sagt Gudrun Burkschat und lächelt. Dabei bräuchten die Lütjenseer eigentlich gar nicht aus dem Ort zu fahren, um ihre Besorgungen zu machen. In ihrer Gemeinde gibt es vom großen Supermarkt bis hin zum kleinen Blumenladen alles - sogar drei Tankstellen. "Auf 1000 Einwohner kommt bei uns eine Tankstelle", sagt Barbara Lehmhaus, "das hat sonst keiner."

Walter Otto findet das allerdings "ein bisschen übertrieben". Er sagt: "Drei Zahnärzte, drei Tankstellen - einige Sachen haben wir echt im Übermaß." Andere, wie beispielsweise eine Dorfkneipe, fehlten. Otto: "Eine Dorfkneipe gehört für mich einfach dazu."

Sich selbst bezeichnet Walter Otto als "echten Lütjenseer". Von denen gebe es nur noch wenige. Otto: "Vor 77 Jahren wurde ich hier in Mutters Wohnstube geboren." Sein Vater war Dorfschmied und engagierte sich leidenschaftlich in der Freiwilligen Feuerwehr. Otto: "Zu seinem Leidwesen bin ich nicht zur Feuerwehr, sondern zum Sportverein gegangen." 1957 wurde er in den Vorstand des TSV Lütjensee gewählt, der heute 850 Mitglieder zählt und auch so besondere Sportarten wie Baseball anbietet.

Walter Otto sagt: "Mein Leben ist der Sport in Lütjensee." Deshalb sei es für ihn auch nie in Frage gekommen, aus der Gemeinde wegzuziehen. "Früher sind wir alle zum Tanzen gegangen", erinnert sich der 77-Jährige, "denn wir wollten ja unsere Mädels kennenlernen." Heute gebe es nur noch wenige solcher Dorfveranstaltungen. Ein Höhepunkt sei das alljährliche Sommerfest im Juni, das vom TSV und der Freiwilligen Feuerwehr organisiert wird. "Da wird der ganze Ort geschmückt und die Straße dort unten gesperrt", sagt Walter Otto und deutet aus dem Fenster seiner Wohnung.

Etwas außerhalb des Ortes lebt Thorsten Timmermann-Thies. Dort führt er den zweiten landwirtschaftlichen Betrieb, den es außer dem Hof Lütjensee in der Gemeinde noch gibt. Sein Hof mit etwa 120 Milchkühen und 105 Hektar Land ist seit 250 Jahren in Familienbesitz. "Bis 1992 hatten wir unsere Ställe direkt im Dorf", sagt Timmermann-Thies. Aber dann hätten sie mehr Platz gebraucht und deshalb außerhalb des Ortes neu gebaut. Auch der 43-Jährige kann sich keinen schöneren Wohnort als Lütjensee vorstellen. Er sagt: "Wir leben dort, wo andere Urlaub machen. Viele Hamburger kommen nach Lütjensee, um hier ihre Freizeit zu verbringen."

Denn ein Kennzeichen der Gemeinde sind die großen Waldflächen, in denen es viele Rad- und Wanderwege gibt. "Etwa ein Drittel der Gemeindefläche besteht aus Wald", sagt Bürgermeister und Förster Andreas Körber. Viele Bäume stehen rund um den Lütjensee, der seit 90 Jahren in Familienbesitz ist. Der Urgroßvater von Claudia Retter hat ihn damals gekauft. Sie selbst übernahm vor eineinhalb Jahren mit ihrem Mann die Leitung des Restaurants "Fischerklause" am Rande des Sees von ihren Eltern.

"Wir haben sehr viele und sehr gute Restaurants", sagt Heiko Röttinger. Wie beliebt Lütjensee bei Touristen sei, zeige auch ein Blick auf sie. Röttinger: "Bei gutem Wetter sind die Parkplätze vor den Restaurants immer voll."

Der größte Arbeitgeber der Gemeinde ist der Paul Albrechts Verlag. "Die meisten unserer etwa 250 Mitarbeiter kommen aus Lütjensee und Umgebung", sagt Geschäftsführer Nils Albrecht. In seinem Unternehmen werden Formulare, zum Beispiel für Arztpraxen, gedruckt. Außerdem übernimmt es den Briefversand für Versicherungen und Krankenkassen. Albrecht: "Jedes Jahr verschicken wir 200 Millionen Briefe." Sein Vater Karl-Heinz Albrecht ist wegen seines ehrenamtlichen Engagements zum Ehrenbürger der Gemeinde ernannt worden - genauso wie Günther Fielmann.

Während die Mitarbeiter des Paul Albrechts Verlags Formulare drucken und Briefe versandfertig machen, fechten Mika, Mahima, Fenja, Marco, Linus und Luca in der Turnhalle der Grundschule. Ausgestattet mit weißer Schutzkleidung, Handschuh, Degen und Maske nehmen die Kinder an einem Ganztagsangebot der Schule teil. Außer fechten können die Kinder auch bildhauen, malen, turnen oder Baseball spielen. "Für Familien haben wir eine sehr gute Infrastruktur", sagt Bürgermeister Körber, "ab der frühsten Kindheit können wir eine Betreuung gewährleisten." So biete der Kindergarten die Möglichkeit an, die Kinder bis 17.30 Uhr unterzubringen. In der Grundschule werden die Mädchen und Jungen bei Bedarf bis 16.30 Uhr betreut.

Am anderen Ende des Ortes wohnt Harry Gehrken, ein weiteres Lütjenseer Urgestein. "Schöner als in Lütjensee kann man nicht leben", sagt er. Noch heute bewohnt er das Haus, in dem er vor 71 Jahren geboren wurde. Wann immer seine Frau und er Zeit haben, sind sie mit dem Fahrrad unterwegs, um die Natur zu genießen. "Da treffen wir immer viele Leute."

Besonders stolz ist Harry Gehrken darauf, dass Lütjensee ein eigenes Wasserwerk hat. "Dadurch können wir den Preis selbst bestimmen und sind nicht von anderen abhängig", sagt der Bauunternehmer, der sich seit 36 Jahren in der Gemeindevertretung engagiert. "Wir Lütjenseer sind eine große Familie", meint Harry Gehrken, "hier gibt es kein böses Wort. Es wird für die Gemeinde gearbeitet, einer ist für den anderen da."