Es gibt ihn natürlich nicht, den durchschnittlichen Angeklagten.

Sollte Ute Schulze Hillert ihn dennoch beschreiben, sähe er so ähnlich aus: männlich, zwischen 16 und 19 Jahre alt, in einer "weniger konstanten Familienzusammensetzung" lebend und mit - wenn überhaupt - schlechtem Schulabschluss. Mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit säße er entweder nicht zum ersten oder nicht zum letzten Mal vor ihr im Gerichtssaal. Womöglich auch nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal. Und in jedem vierten Fall hätte er einen Migrationshintergrund.

Ute Schulze Hillert, 37, ist Jugendrichterin am Amtsgericht Reinbek, dessen Bezirk grob umrissen das südliche Drittel Stormarns umfasst. 2009 sind 87 Akten mit Jugendstrafsachen auf ihrem Schreibtisch gelandet. In diesem Jahr sind es bis jetzt 57. "Das ist relativ konstant", sagt die Juristin.

Einen Anstieg der Fallzahlen, wenn auch auf niedrigem Niveau, beobachtet die Richterin hingegen bei den sogenannten Jugendschöffenverfahren, deren Gegenstand die schwereren Straftaten sind. Drei Fällen in 2009 stehen bislang fünf in diesem Jahr gegenüber. Schulze Hillert: "Darunter sind zwei Raubüberfälle."

Doch so etwas sei die große Ausnahme im Süden des Kreises. In Stormarn sei Jugendkriminalität ein vergleichsweise geringes Problem. "Stormarn ist nicht Berlin-Neukölln", sagt Ute Schulze Hillert und schlägt den Buchdeckel zu. Das Gros der Fälle, mit denen sie es zu tun hat, ist anderen Kalibers als die Straftaten, die ihre Berliner Kollegin Kirsten Heisig schildert. Oft gehe es um Körperverletzungen. Sie, sagt die Richterin, machten zusammen ungefähr ein Drittel aller Fälle aus. "In Stormarn werden körperliche Auseinandersetzungen oft noch mit den Fäusten ausgetragen. Besonders häufig beim Stemwarder Pfingstfest." Ein weiteres Drittel seien Diebstähle. Dann gibt es noch das dritte Drittel, die Kategorie, die Ute Schulze Hillert "Sonstiges nennt": "Sachbeschädigungen, Schwarzfahren, frisierte Roller und so etwas."

Manche der jungen Leute, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, sieht Ute Schule Hillert nur ein einziges Mal. Das sind ihr die liebsten Fälle. Das sind jene Verhandlungen, in denen sie auch Eltern erlebt, die gleichermaßen erschrocken über die Fehltritte ihrer Kinder wie engagiert bei der Suche nach einem Ausweg sind. Das sind Eltern, die ihr Bestes geben, damit der Nachwuchs keine kriminelle Karriere einschlägt.

Manche der jungen Leute sieht Ute Schulze Hillert hingegen immer wieder, beobachtet sie über Jahre. Etwa jeder zweite Fall geht auf das Konto eines "Stammkunden". "Manche sitzen alle paar Monate bei mir in der Verhandlung, andere alle zwei oder drei Jahre", sagt sie. Auch deren Eltern lernt die Richterin manchmal kennen. "Das sind oft Leute, die Gerichtstermine total lästig finden und die Taten ihrer Kinder bagatellisieren." Ute Schulze Hillert schüttelt den Kopf. "Wie will man denn so Einsicht erzeugen?"

Solche kleinkriminellen Karrieren endeten allerdings oft, wenn es den jungen Menschen gelinge, im Alter von 18 oder 19 Jahren in ein stabileres Umfeld zu gelangen. "Dann haben sie eine Freundin, die Straftaten gar nicht cool findet, und eine Lehrstelle, die keine Zeit mehr lässt, welche zu begehen."

Doch bis dahin kann es ein langer Weg sein, ein Weg, der mit Sanktionen gepflastert ist. Gemeinnützige Arbeit und Arrest sind die Maßnahmen, auf die ein Richter in einer Jugendstrafsache zurückgreifen kann. Doch gerade die Verurteilung zu Arbeitsstunden erweist sich offenbar mehr und mehr als ein stumpfes Schwert. Ute Schulze Hillert: "Die Motivation, sie abzuleisten, ist gesunken." In solchen Fällen kennt sie kein Pardon, verhängt umgehend Beugearrest. "Das ist für viele das erste Mal, dass sie merken, dass ihr Handeln auch Konsequenzen hat."

Ist sie eine strenge Richterin? Ute Schulze Hillert lacht, sie überlegt einen Augenblick. "Ich urteile angemessen und konsequent." Besonders wichtig sei, dass Jugendstraftaten zügig verhandelt werden. "Man muss schnell reagieren. Diese Meinung teile ich übrigens mit Frau Heisig." Doch gerade das ist offenbar nicht immer leicht. "Wenn ich ein Verfahren mit drei Angeklagten habe, bei dem jeder Verteidiger Akteneinsicht beantragt, dann ist eine Akte auch mal sechs Wochen unterwegs. Und wenn ich versuche, einen Verhandlungstermin zu finden, an dem alle Verteidiger Zeit haben, bin ich schnell noch mal drei Monate weiter."

Ute Schulze Hillert ist seit acht Jahren Jugendrichterin, und sie macht ihre Arbeit gern. Tauschen mit den Kollegen in Hamburg oder in Berlin möchte sie nicht. "Wie gesagt: Stormarn ist überschaubar. Das erleichtert auch den Austausch und die Vernetzung mit anderen Behörden, die hier wirklich ausgezeichnet funktioniert." Apropos andere Behörden: Was könnte, was müsste der Staat tun, um Jugendkriminalität einzudämmen? Ute Schulze Hillert hat eine ganz klare Meinung. "Man kann nicht immer nur nach dem Staat rufen", sagt sie, "es sind auch die Eltern, die ihren Einfluss geltend machen müssten, aber es nicht tun."

Nein, sagt die Richterin nochmals, Stormarn sei nicht Berlin-Neukölln, die Situation sei überhaupt nicht vergleichbar. Und Menschen, die behaupten, mit der Jugendkriminalität werde es doch auch in Stormarn immer schlimmer, begegnet die Richterin mit nüchternen Zahlen. "Mein Zuständigkeitsbereich ist im Zuge der Amtsgerichtsstrukturreform geringfügig gewachsen, die Zahlen sind aber nicht angestiegen. Und die Qualität hat sich auch nicht geändert."