Abendblatt-Schreibwettbewerb: Leser Hellmut Rucks über seine Begegnung mit dem “Feind“ und dem Glück, das Kriegsende zu erleben

An einem schönen Maitag des Jahres 1945 standen mein Bruder und ich mit anderen Dorfkindern am Straßenrand vor unserem Haus und erwarteten mit Spannung die Ankunft der britischen Truppen, deren Vorhut schon Schleswig erreicht haben sollte. Plötzlich hörten wir ein Motorengeräusch, was in dieser Zeit wirklich selten war. Und da kam auch schon ein englischer Soldat mit umgehängter Maschinenpistole auf einem Motorrad die Dorfstraße heraufgefahren. Er knatterte an uns vorbei. Wie gebannt starrten wir hinter ihm her und sahen, dass er etwas verlor, was laut scheppernd auf die Straße fiel. Uns blieb fast das Herz stehen, denn der "Tommy", wie wir die Engländer nannten, wendete und kam zurück.

Zum Weglaufen war es zu spät! Fast auf unserer Höhe, stoppte er erneut, beugte sich zur Seite und hob den Gegenstand auf. Dann gab er Gas und verschwand in Richtung Kappeln. Das war unsere erste aufregende Begegnung mit dem "Feind", und fast waren wir ein bisschen enttäuscht, dass er uns keines Blickes gewürdigt hatte. Kurze Zeit später ertönte in der Ferne ein noch nie gehörtes Dröhnen. Englische Panzer näherten sich, rasselten an uns vorbei und rissen große Asphaltstücke aus der Straßendecke. Viele Erwachsene trauten sich nicht aus ihren Häusern. Auf den Panzern hockten schwerbewaffnete englische Soldaten. Ihre flachen Stahlhelme hatten sie wie zur Dekoration um den Geschützturm gehängt. Wir blickten sprachlos in lachende Gesichter, und alle winkten sie uns fröhlich zu.

Da löste sich auch bei uns die Anspannung, und unendlich erleichtert und total begeistert winkten wir zurück.

Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchströmte mich. Der Krieg war endlich zu Ende und damit auch die Ängste, die wir durchleiden mussten.

Wenige Tage danach trieben mein Bruder und ich uns wieder einmal auf der Dorfstraße herum, als ein Jeep der britischen "Military Police" herangerast kam und ausgerechnet auf unserem kleinen Hofplatz stoppte. Zwei Militärpolizisten mit roten Schirmmützen und weißem Koppelzeug stiegen aus und gingen suchend von Haus zu Haus. Neugierig näherten wir uns dem seltsamen Fahrzeug ohne Fenster und Türen, um verstohlen ins Wageninnere zu blicken. ein paar ausländische Münzen lagen auf dem Boden. Zu gern hätte ich eine an mich genommen. Dann kamen die beiden Engländer zurück und forderten uns mit einer Handbewegung freundlich lächelnd auf, zu ihnen zu kommen.

Einer drückte mir eine Tafel "Cadbury"-Schokolade in die Hand. Wir waren fassungslos vor Freude und konnten nur "Thank you!" stammeln.

Plötzlich hielt der andere einen Fotoapparat in den Händen, um uns mit dem Jeep im Hintergrund zu fotografieren. Nach der Aufnahme klappte der Militärpolizist seine Kamera zusammen, strich noch einmal mit der Hand über unsere Blondschöpfe und startete den Jeep. Auf dem Nachbarhof stiegen die beiden Militärpolizisten wieder aus und verschwanden im Haus. Wir konnten beobachten, wie sie nach kurzer Zeit wieder auftauchten - mit einem Mann in ihrer Mitte, der hinten im Jeep Platz nehmen musste. Ein Militärpolizist setzte sich neben ihn, und dann brausten sie davon. Später hörten wir von unseren Eltern, dass es sich um einen Knecht gehandelt haben soll, dem Schikane von polnischen Kriegsgefangenen vorgeworfen worden sei.

Da in unserer Oberschule in Kappeln ein Lazarett eingerichtet worden war, konnten mein Bruder und ich derweil unsere Zwangsferien genießen.