Dietrich von Horn aus Bargteheide schreibt einen Brief an seinen im Krieg gestorbenen Vater, den er nie gesehen hat

Lieber Vater,

aus deinem Soldbuch geht hervor, dass Du am 27. Juni 1910 in Dortmund geboren wurdest. Du warst Bankangestellter, evangelisch, 184 Zentimeter groß und schlank. Du hattest ein längliches Gesicht, dunkelblondes Haar, braune Augen. Deine Fußlänge war 29,5 Zentimeter. Ich hab mal meine gemessen. Meine ist nur 27,5 Zentimeter, dafür bin ich aber acht Zentimeter größer als Du.

Merkwürdig, ich muss mich immer vergleichen. Dabei kenne ich Dich gar nicht. Ich habe Dich nie gesehen. Wo warst du? Wer warst Du? Warum warst Du nicht da, als ich Dich brauchte? Wie konntest Du nur in den Krieg ziehen?

In der Zeit vom 25. Oktober 1939 bis zu Deinem Tod bekamst Du 14-mal Urlaub, der über fünf Tage hinausging. Danach hast Du mit Deiner Frau ungefähr 340 Tage lang eine Ehe geführt.

Deine Familie kam aus der Oberschicht. Der Landgerichtsdirektor in Potsdam war Dein Vater. Deine Mutter kam aus reichem Haus. Die Likörfabrik in Lippstadt gibt es heute noch. Alkohol wird eben immer gerne genommen, in Kriegs- wie in Friedenszeiten.

Aber das weißt Du alles. Vielleicht war Deine Herkunft ja auch ein Grund dafür, warum sich Deine Frau in Dich verliebt hat. Du fandest sie jedenfalls toll. Groß, schlank, dunkles seidiges Haar, elegant, von aparter Schönheit, sie gefiel Dir.

Deine Handschrift ist sehr akkurat. Fast nie hast Du etwas gestrichen oder neu begonnen. Du hast in Sütterlin geschrieben. Schwer zu lesen, aber wenn man sich dran gewöhnt hat, geht das schon. Das Schreiben war Dir wichtig, so wie mir. Merkwürdig, wie nahe sind wir uns eigentlich?

Deine Briefe aus Russland sind in Eurer Wohnung in der Büsingstraße 21 in Berlin-Friedenau bei einem Bombenangriff verbrannt. Die Orden und Urkunden haben überlebt, sie sind von Deiner Frau mit in den Luftschutzkeller genommen worden. Wichtige Dinge hatte man eben immer bei sich, auch den arischen Nachweis. Auch den habe ich in der Kiste gefunden.

Warum musstest Du unbedingt die Freiheit Deutschlands in Italien verteidigen? Du schreibst, Du hast damals am Gardasee ein Lied von Franz Schubert gehört: "Leise flehen meine Lieder", und dabei seien Dir die Tränen gekommen, weil Du Dich nach Deiner Frau verzehrt hast. Das muss schrecklich gewesen sein. Lustvertagung ist Folter.

Bei schönen Abenden bist Du bei Sonnenuntergang auf einen Berg gestiegen und hast lange nach Norden gestarrt, wo hinter der dunstverhangenen Po-Ebene die Heimat lag. Du glaubtest, dass im nächsten Herbst der Krieg zu Ende sein würde und Du dann für immer zu Deiner Familie zurückkommen könntest oder nie mehr.

Ich war sieben Monate, als Du starbst. Wir haben uns nie in die Augen gesehen.

Du hast ein Gedicht geschrieben: "Herbstabend in Toskana". Am Ende heißt es: "Des Herbstes dunkles, leises Saitenspiel verklingt. Gleich kommt die Nacht, und über nebelweite Sterne

die Sehnsucht nach der Heimat schwingt." Das hat mich sehr berührt, es wird mich zukünftig begleiten.

Du warst kein Nazi. Das weiß ich jetzt. Ich werde nicht mehr von Schuld sprechen, denn die Zwänge der Zeit vergisst man schnell, wenn man über Vergangenes urteilt.

Dein Sohn Dietrich

P. S.: Ich hab Dich lieb!