Experte der Aids- und Sexualberatung des Kreises schätzt die Zahl der infizierten Stormarner auf 100. Landesweit sind es 1500 Menschen.

Bad Oldesloe. Es wird ignoriert. Verdrängt. Totgeschwiegen. Aids ist auch nach fast drei Jahrzehnten, seit der erste Fall in Deutschland 1982 dokumentiert wurde, immer noch ein Tabu-Thema. Nicht geeignet für den Plausch am Stammtisch oder beim Friseur. Weil Aids ohnehin immer die anderen bekommen: Die Schwulen, Junkies und Prostituierten. Das sind nur einige Vorurteile, die es über die lebensbedrohliche Immunschwächekrankheit gibt.

"Man hat seinen Stempel weg und wird schief angeguckt, wenn man HIV-infiziert ist", sagt Birgit S.. "Manche gehen noch nicht mal auf dieselbe Toilette, weil sie Angst haben, sich dabei anzustecken." Birgit S. weiß seit einem Jahr, dass sie HIV-positiv ist. Angesteckt hat sie sich vor etwa acht Jahren, als sie ungeschützten Sex hatte. Ihren richtigen Namen will die 42-jährige Stormarnerin nicht verraten. Um ihren Sohn und ihre Tochter zu schützen. "Wenn ihre Freunde in der Schule erfahren, dass ich HIV-infiziert bin, haben meine Kinder nichts mehr zu lachen."

Birgit S. ist eine von rund 1500 Menschen in Schleswig-Holstein, die mit Aids oder HIV leben, eine von 67 000 Betroffenen in Deutschland. 3000 haben sich im Jahr 2009 neu infiziert, in Schleswig-Holstein 65. Das belegen die aktuellen Zahlen des Robert-Koch-Instituts. "Das Infektionsgeschehen hat sich in den vergangenen Jahren stabilisiert. Das ist ein kleiner Erfolg", sagt Gesundheitsminister Philipp Rösler. Aber man müsse weiterhin hart daran arbeiten, die Zahl der Neuinfektionen zu senken.

"Genaue Statistiken gibt es nicht, aber ich schätze, dass allein im Kreis Stormarn etwa 100 HIV-Infizierte leben", sagt Günther Frank von der Aids- und Sexualberatung des Kreises. Viele Betroffene verbergen ihre Krankheit. "Aus Angst vor sozialer Ausgrenzung." Weil die Leute sofort wilde Fantasien hätten. "Für sie steht fest, dass HIV-Infizierte etwas Schlimmes gemacht haben: Sex mit Männern, illegale Drogen, zu viel Sex mit zu vielen Partnern." Zudem hätten viele irrationale Ängste, was die Ansteckung angeht.

"Die Menschen sind eben so, wie sie sind: Unwissend und engstirnig", sagt Birgit S., zuckt mit den Schultern und lächelt. Die Frau mit den wallenden haselnussbraunen Haaren wirkt nicht verbittert oder wütend. Im Gegenteil: Sie strahlt Ausgeglichenheit aus. Lebensfreude. Jammern ist nicht ihr Ding. "Ich bin eben ein optimistischer Mensch." Vielleicht habe es ja auch einen Sinn, dass sie HIV habe. "Vielleicht habe ich das Leben vorher zu wenig genossen. Zu wenig gelebt", sagt sie. "Dabei kann es so schnell vorbei sein." Die Erkrankung sei ihre zweite Chance. "Mein zweites Leben", sagt sie strahlend und es scheint, als sauge sie jeden Tag förmlich auf. "Es ist ein großes Glück, dass die Forschung und die Medizin so weit sind", sagt sie und klingt ehrlich dankbar. "Vor 20, 30 Jahren wäre ich mit dieser Krankheit schon tot gewesen."

Dass sie ihrer Diagnose etwas Gutes abgewinnen könne, sei aber nicht immer so gewesen. "Zunächst war ich schockiert und verzweifelt." Angefangen habe alles mit einer Mandelentzündung. "Sie hielt sich hartnäckig. Aber an was Böses habe ich da noch nicht gedacht", sagt Birgit S.. Auch nicht, als der Arzt ihr Blut abgenommen habe, um mehrere Tests durchzuführen. "Erst als ich wegen der Ergebnisse persönlich vorbei kommen sollte, wurde mir etwas mulmig." Aber mit der Diagnose HIV hatte sie nicht gerechnet. "Ich war total fertig. Dachte, das ist mein Todesurteil." Ein paar Tage später kam die Nachricht, dass bei ihr bereits die Krankheit ausgebrochen ist. Dass sie Aids hat. "Ich habe überlegt, was ich mit der Zeit, die mir bleibt, noch anfangen will. Freunde haben sogar Geld gesammelt, damit ich noch mal in den Urlaub fahren kann", sagt sie. Dabei lacht und weint sie gleichzeitig. Mit ihrer zierlichen Hand wischt sie sich die Tränen aus dem Gesicht. "Das rührt mich immer noch sehr." Denn nicht jeder HIV-Infizierte habe so ein tolles Umfeld wie sie. Sie bekomme viel Unterstützung. Von ihren Freunden. Und ihrem Lebensgefährten, mit dem sie seit sechs Jahren glücklich ist. "Ich liebe dich", "Für immer dein" und andere Liebesbekundungen zieren mehrere Zeichnungen, die an ihren Schlafzimmerwänden hängen. "Die hat mein Freund gemalt", sagt Birgit S. und streicht sanft über die Bilder. "Seit ich HIV-infiziert bin, weiß ich, dass es nicht nur leere Worte sind." Ihr Freund habe sogar geweint, als fest stand, dass sie ihn nicht angesteckt habe. "Weil er mit mir zusammen sterben wollte."

Aber Birgit S. wollte nicht sterben. "Ich habe gekämpft", sagt sie und ballt ihre rechte Hand zu einer Faust. Sie sei damals völlig abgemagert gewesen. "Ich habe zehn Kilo abgenommen. War nach fünf Minuten Abwaschen völlig erschöpft. Meine Lunge war angegriffen. Die Haare, mein ganzer Stolz, sind mir ausgegangen. Ich hatte diese Flecken im Gesicht und habe mich hässlich gefühlt." Es sei das erste Mal in ihrem Leben gewesen, dass sie Makle Up benutzt habe. "Aber ich habe immer nach vorne geschaut." Schon allein wegen der Kinder. "Ihnen von meiner HIV-Infektion zu erzählen, war das Schwerste", sagt Birgit S.. Wieder ringt sie um Fassung. Stolz sei sie, dass ihre Kinder so toll damit umgingen. "Sie geben mir Kraft." Haben dazu beigetragen, dass es Birgit S. heute wieder besser geht. Ihr Zustand habe sich stabilisiert. "Ich gehe joggen und habe mich für eine Umschulung zur Ernährungsberaterin angemeldet", sagt sie. Ohne Medikamente kommt sie aber nicht aus: Drei Tabletten muss sie täglich schlucken. Die Nebenwirkungen wie Übelkeit und Müdigkeit erwähnt sie nur am Rande. Viel lieber spricht sie über ihr "kleines Paradies" hinterm Haus. "Dort in der Erde zu wühlen, ist genial", sagt sie. Pfefferminze, ein Wallnussbaum und Tomaten wachsen dort. "Und Erdbeeren. Die sind einfach köstlich", sagt sie. Fast schmeckt man die süße Frucht auf der Zunge, wenn sie von ihren Erdbeeren schwärmt.

Auch die kleinen Freuden im Alltag zu genießen und mit seinem Leben etwas anzufangen - das ist Birgit S. wichtig. "Es ist zu schade, um es zu vergeuden." Das sagt sie auch ihren Kindern immer wieder. "Genauso, wie ich sie jedes Mal frage, ob sie Gummis dabei haben", sagt sie und schmunzelt. "Über die Gefahren von ungeschütztem Sex und über Aids kann man gar nicht oft genug sprechen." Damit das Thema nicht mehr ignoriert wird. Verdrängt. Totgeschwiegen.