Kultusministerium und die Techniker Krankenkasse (TK) geben Heft mit Anregungen für Spiele im Freien für Kindern und Erzieher heraus.

Himmel und Hölle, Himmel und Hölle", rufen Lea, 9, Matilda, 9, und Kim, 8, wie aus einem Munde. Himmel und Hölle, auch Kästchenhüpfen genannt - das haben die drei Mädchen schon mal gehört. Jetzt wollen sie es auch ausprobieren. Kim nimmt das Heft in die Hand. Das hat 30 Seiten im DIN-A6-Format - eine kindgerechte Größe. Kindgerecht ist auch der Inhalt, das verspricht schon der Titel: "Spielend im Freien. Spiele aus alten Zeiten neu entdecken." Herausgeber sind das Kultusministerium und die Techniker Krankenkasse (TK) in Niedersachsen. Beide Institutionen wollen die Jugend im Land bewegen, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.

"Bewegungsspiele sind eine gesunde und sinnvolle Beschäftigung sowohl für die Pause auf dem Schulhof als auch für die freie Zeit in den Sommerferien", sagt Kultusminister Bernd Althusmann (CDU). Und: "Spontan zum Spielen nach draußen gehen, mit einfachen Mitteln ein Spiel mit Freunden im Garten oder auf dem Bolzplatz starten - das hat früheren Generationen Spaß gemacht und ist auch heute noch eine gute Idee." Wirklich? Nicht Garten, nicht Bolzplatz sind an diesem Tag Ort des Geschehens, sondern das Außengelände des Horts der Arbeiterwohlfahrt in Stelle. 20 Kinder werden hier auch in den Ferien betreut. Ein spontaner Praxistest. Der Ort ist willkürlich gewählt, es könnte auch jeder andere sein.

Kim, die das Heft in die Hand genommen hat, beginnt zu lesen: "Du brauchst: ein bis zehn Kinder, einen Stein, Straßenmalkreide." Zu dritt sind sie, das passt schon mal, und ein Stein lässt sich sicherlich unter den Büschen neben dem Eingang finden. Aber Straßenmalkreide? "Haben wir", ruft Hortleiterin Kristina Schneider, 58, und kommt mit einem Eimerchen nach draußen. 20 Stangen in allen Farben sind drin. Lea nimmt die pinkfarbene (pinkfarben ist auch das Spielfeld auf der Anleitung in der Broschüre) und beginnt zu malen: ein Kästchen, in das sie "Hölle" schreibt (der Start), ein Kästchen mit einer "1", zwei Kästchen nebeneinander mit "2" und "3" und so weiter und so fort. Während sie malt, werden die Kästchen immer größer. "Uff", stöhnt Lea. Ist unbequem da unten. Über die "7" kommt noch "Himmel". Das Ziel. Fertig. "Uff", macht Lea noch mal.

Jetzt wollen die Mädchen spielen. Das geht so: Stein in ein Kästchen werfen. Tapp, tapp, tapp über alle Felder hopsen, das Kästchen mit dem Stein jedoch überspringen, im Himmel erst Pause machen und dann wenden, tapp, tapp, tapp zurück bis zum Stein, Stein aufsammeln, tapp, tapp, tapp in die Hölle. Fertig, der nächste ist dran. Eigentlich ganz leicht. Kim, die das Heft jetzt aus der Hand gegeben hat, greift nach dem Stein und wirft ihn. Er kullert irgendwo ins Abseits. Dann hüpft Kim los... "Aber, aber!" Erzieherin Martina Radziewski, 48, ist plötzlich aufgetaucht, tut empört und schüttelt voll scheinbarer Missbilligung den Kopf. "Der Stein muss doch im Spielfeld landen", erklärt sie, "und ihr dürft beim Hüpfen auch nicht über den Spielfeldrand treten." Die Mädchen sind verblüfft. "Ach so?"

"Früher", sagt Radziewski später, "früher haben die Kinder das ganz streng gesehen und die Regeln auch eingehalten." Dann spricht sie von Fähigkeiten, die heute verloren gegangen seien. Welche das sein könnten, haben Wissenschaftler am Institut für Sport und Sportwissenschaft an der Universität Karlsruhe herausgefunden. Aus ihrer viel beachteten Studie über die motorische Leistungsfähigkeit von Kindern geht hervor, dass 35 Prozent der untersuchten Kinder nicht in der Lage gewesen sind, zwei oder mehr Schritte rückwärts auf einem drei Zentimeter breiten Balken zu balancieren; dass es 86 Prozent der Kinder nicht gelungen ist, eine Minute auf einer T-Schiene zu stehen, ohne runterzufallen; dass Kinder heute über durchschnittlich 14 Prozent weniger Kraft verfügen als im Vergleichsjahr 1976.

Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangen die Experten der TK, die sich auf Prof. Klaus Roth vom Institut für Sport und Sportwissenschaft an der Universität Heidelberg berufen. Verglichen mit Mädchen und Jungen, die in den 80er-Jahren aufgewachsen sind, hätten Kinder heute bis zu 15 Prozent weniger Ausdauer und Kraft, auch seien sie langsamer und unbeweglicher.

Die Mädchen aus Stelle sind da noch ganz gut dran. Auf dem Lande, wo viele Elternhäuser von Gärten umgeben sind, hat "Bewegung" noch nicht den Stellenwert eines Fremdwortes eingenommen. Und: Kinder mit einem besseren sozialen Hintergrund - auch das ist ein Ergebnis der Karlsruher Motorik-Studie - sind beweglicher. Nachdem die drei also verstanden haben, worauf es ankommt, klappt's mit dem Spielen. "Das ist toll", sagt Lena. "Ein Spiel, bei dem man malen und springen kann." Laura, 11, die sich zur Gruppe gesellt hat, gibt sich etwas skeptisch: "Am Anfang wusste ich nicht, was das soll. Aber", räumt sie ein, "als ich es ausprobiert habe, hat es Spaß gemacht." Normalerweise, erzählt die angehende Sechstklässlerin, spiele sie zu Hause im Garten mit ihren Freunden viel Fußball und Federball.

Die Kinder in Stelle haben Lust auf ein neues Spiel, sie blättern gemeinsam im Heft. Die Wahl fällt auf Rundsprung. Ein Kind steht in der Mitte, hält ein Springseil, an dessen Ende ein Sandsäckchen festgeknotet sein soll, in den Händen und dreht sich schnell um die eigene Achse. So rotiert das Seil hart über dem Boden, und die anderen Kinder hüpfen hoch, damit es unter ihren Füßen durchsausen kann. Einen Sandsack finden sie nicht, nicht mal einen klitzekleinen. "Müsste aber auch mit einem kleinen Gummireifen funktionieren", meint Hort-Leiterin Schröder. Der ist schnell festgeknotet. Laura stellt sich in die Mitte. Es dauert einen Augenblick, bis sie die richtige Geschwindigkeit ermittelt hat, damit das Seil nicht auf dem Rasen schleift, aber auch nicht zu hoch fliegt. "Hihi, lustig", sagt Matilda und kichert. So geht das eine ganze Zeit. Als sie fertig sind, schnappt sich Lucy, 7, das grüne Band und macht Seilspringen.

Dann entscheiden sich alle, es mit einer Runde Eierlaufen zu versuchen. Klingt einfach. Esslöffel gibt's im Hort, Eier nicht. Und das ist auch gut so. Denn niemand kommt ins Ziel, ohne sein Ersatz-Ei - einen Tennisball - mindestens einmal zu verlieren.

Neues Spiel, neues Glück: Die Wahl fällt auf Gummi-Twist. Simon, 11, gibt sich als echter Gummi-Twist-Experte zu erkennen und schlägt eine Variante vor, bei der ganz viele Kinder mitspielen können: "Alle stellen sich in einem Kreis auf und spannen das Band um ihre Fersen. Auf Los müssen alle versuchen, rauszuspringen." Das finden auch die Mädchen gut. "Wer nicht rauskommt, muss mit Kreide ein Herz auf den Boden malen", gibt Simon vor. "Aber ein hübsches", fordert Kim. Dann springen sie. Und Simon muss hinterher ein Herz aus Kreide malen. Aber ein hübsches.

Und wie sieht's mit "echtem" Gummi-Twist aus - zwei halten das Gummi gespannt, einer hüpft seine Kunststücke um das weiße Band herum? Plötzlich sind alle Kinder verschwunden. "Die erste Variante", sagt Erzieherin Martina Radziewski, "ist die sozialere. Die Kinder sprechen miteinander. Die andere ist die sportlichere. Wer nicht mithält, scheidet aus." Das gefällt den Kindern offenbar nicht. Martina Radziewski erzählt wieder von früher, als es drei allgemein anerkannte Gummi-Twist-Höhen gab: Fuß, Knie und Hüfte. Und sie deutet nur an, was sie nicht ausspricht: Hüfte schaffe heute kaum noch ein Kind. Und Bockspringen, auf Seite 14 des Hefts beschrieben, will sie mit den Kindern gar nicht erst ausprobieren - weil viele ohnehin schon "Rücken" hätten.

Die TK spricht von den Kindern der "Generation Stubenhocker". Eine Forsa-Umfrage im Auftrag der Krankenkasse hat ergeben, dass sie heute pro Tag durchschnittlich eine Stunde und 36 Minuten vor irgendeinem Bildschirm sitzen, aber nur noch eine Stunde und 18 Minuten toben. Zwei von zehn Kindern bewegen sich der Umfrage zufolge sogar weniger als eine Stunde täglich. Und damit nicht genug: Jedes sechste Kind müsse sich nicht mal zur Grundschule bewegen, weil es von seinen Eltern chauffiert werden.

Simon wagt doch noch ein paar Gummi-Twist-Sprünge auf Niveau Hüfte - und das sieht gar nicht übel aus. Spielt er eigentlich am Computer? "Ja, sag mal", wirft auch Laura ein und guckt ihn keck von der Seite an. Simon druckst ein wenig rum. "Hm, na ja, wie Jungs das eben so machen." Aber er bewege sich auch viel, sagt Simon. Und auch die Erzieherinnen in Stelle wissen - aller allgemein geäußerten Kritik an den motorischen Fähigkeiten der Jugend von heute zum Trotz -, dass es ihre Schützlinge wirklich nicht sind, um die sich die Gesellschaft sorgen muss.

Der Beweis dafür kommt ganz zum Schluss. Die Jungen und Mädchen fragen, ob sie das Heft behalten dürfen. Praxistest bestanden.

Die Broschüre "Spielend im Freien - Spiele aus alten Zeiten neu entdecken" mit illustrierten Anleitungen für 13 Spiele, die für Kinder ab fünf Jahren geeignet sind, ist kostenlos erhältlich in den niedersächsischen Kundenberatungen der Techniker Krankenkasse und - als Klassensatz für Schulen und Kindertagesstätten - beim niedersächsischen Kultusministerium.