Als die Bomben auf Harburg fielen, schrieb Wilhelmine Bell Briefe an ihre Schwester. Jetzt tauchten diese Dokumente wieder auf.

Stade. Wir blicken fast 70 Jahre zurück, in die Jahre 1943 bis 1945. Der Zweite Weltkrieg sorgt für unvorstellbares menschliches Leid und für Zerstörung. In diesem Fall werden Erinnerungen an Bomben, Tod und Überleben in Harburg geweckt. Wolfgang Bell heißt der inzwischen 79 Jahre alte Mann, der heute in München lebt und damals als 11 bis 13 Jahre alter Junge mit seinem Vater Ralph, seiner Mutter Wilhelmine und den beiden Schwestern Traute und Carmen in einem Doppelhaus in der Dürerstraße 30, heute Flebbestraße 30, in Wilstorf wohnte.

In der Zeit der Hamburger Bombennächte schrieb seine Mutter Wilhelmine Briefe an ihre damals in Göppingen in Baden-Württemberg lebende Schwester Luise Kümmerle. Es sind sehr bewegende Dokumente, die Luise Kümmerles Tochter gefunden und aufbewahrt hat. Kürzlich gab sie die Briefe ihrem in München lebenden Cousin Wolfgang Bell zurück. Als Wolfgang Bell die Briefe seiner Mutter aus den Kriegsjahren las, fühlte er sich an seine Kindheit, die Bombardierung Harburgs und die unzähligen bangen Stunden erinnert, die er und seine Familie draußen im Garten in einem kleinen Erdbunker verbracht hatten. Einen Teil dieser Briefe hat Wolfgang Bell nun dem Hamburger Abendblatt zur Verfügung gestellt.

Den Bunker hatte der Vater im Garten hinterm Haus gebaut. Eigentlich handelte es sich nur um ein simples Erdloch, das er gegraben hatte, etwa zwei Meter tief, drei Meter lang und zwei Meter breit. Darüber hatte er Eisenbahnbohlen gelegt und einen Sandhaufen aufgeschüttet. Und das Glück war bei der Familie Bell. Während rundherum die Bomben fielen und Menschen starben, kam sie mit dem Leben davon. Allerdings starb der Vater als Soldat. Ein letztes Lebenszeichen kam von ihm im Februar 1945 aus Posen.

Als am 14. April 1945 die letzten Bomben auf Harburg gefallen waren, zählte man in Harburg insgesamt 1768 Todesopfer, in ganz Hamburg etwa 50 000. Noch am 3. März 1945 hatte Wilhelmine Bell ihrer Schwester nach Göppingen geschrieben: "Unsere Siedlung hat wieder tüchtig was abgekriegt. Der Tod ging wieder gnädig aber sehr, sehr nahe um unseren Bunker herum. Im Umkreis von 100 Metern sind allein 80 Bomben gefallen. Und so heftige Kaliber, dass es Bombentrichter sind, in die man eines von unseren Häusern hineinstellen kann. Das Leid und das Elend ist wieder sehr, sehr groß. Es gab sehr viele Tote und Verschüttete. Wann hört dieser Luftterror endlich mal auf??? Wir haben täglich sechs bis sieben Stunden Alarm, man bringt kaum ein Essen fertig. So verkommen sah es bei mir noch nie aus, denn abends kann man ja auch nichts tun, wenn man kein Licht hat. Was ist das aber alles klein gegen die Sorge um Ralph."

Von Ralph, dem Ehemann und Vater ist in den Briefen häufig von "Väti" die Rede. Die beiden Schwestern Wilhelmine Bell und Luise Kümmerle nennen sich gegenseitig "Wedde", wofür die Familie keine Erklärung hat. Beide Schwestern starben vor etwa zehn Jahren und wurden über 90 Jahre alt.

Aber dass sie jemals dieses Alter erreichen würde, hatte sich Wilhelmine Bell vermutlich nicht träumen lassen. Als sie am 28. Juli 1943 ihrer Schwester alle Versicherungs- und Kontonummern der Familie mitteilte, hatte sie vermutlich schon ein Überleben des Bombardements ausgeschlossen. In der Folge lesen Sie einige Auszüge aus den Briefen.

Harburg, 26. VII. 43

"Meine Lieben! Sicher wartet Ihr auf ein Lebenszeichen von uns, wo Ihr im Radio gehört habt, dass es bei uns so zugeht. Gott sei Dank geht es uns noch gut. Wir haben seit zwei Tagen ununterbrochen Alarm, der nicht von Pappe ist. Es wird geschossen, dass die Türen nur so auf und zu fliegen. Es ist ganz furchtbar. Man wartet nur immer auf sein Ende. Es sind meist 200 Flieger über uns, eine Welle löst die andere ab. Wenn es eben etwas ruhiger ist, tragen wir nun immer Sachen in den Keller. Da kann man nicht mehr wandeln. Wolfgang ist immer weg. Er muss von halb acht morgens bis acht Uhr abends Obdachlose mit versorgen. Wie ich immer in Angst um ihn bin könnt Ihr Euch denken. Er erzählt schaurige Dinge, wenn er nach Hause kommt. Kochen können wir kaum, das Gas ist meist weg. Wasser haben wir noch und bis jetzt auch Licht. Zeitung gibt es nicht mehr und kaum Post. Der Himmel ist am hellen Tag so dunkel, dass man meint, der jüngste Tag käme vor lauter Rauch. Heute haben sie einen Öltank getroffen. Man ist ganz durchgedreht, hoffentlich hört es bald auf. Unser Väti ist nun wieder weg. Er hatte vier Tage Urlaub bekommen. Wir haben die Zeit zusammen verlebt und waren so glücklich. Ich kann es nicht beschreiben. Er ist jetzt Unteroffizier geworden. Nun ist auch mein Schwager Walter gefallen. Ist das nicht furchtbar? Nun hat Ralph keinen Bruder mehr. Meine Schwiegereltern tun mir so leid. Vielen Dank für Briefe mit Inhalt und das wunderbare Päckchen, wir konnten alles gut gebrauchen. Väti wollte immer selbst schreiben, aber im Urlaub kommt man ja nie zu etwas. Sonst weiß ich für heute nichts, habe auch keinen Kopf zum Schreiben, man ist zu durchgedreht. Verzeiht auch bitte deshalb meine Schrift. Gestern haben wir den ganzen Tag im Keller gesessen und nur Brot mit Auflagen gegessen. Es war ein schauriger Sonntag. Für heute viele liebe Grüße von Euren vier Hamburger.

Harburg 28. VII. 43

Meine liebe Wedde!

Ich habe Gelegenheit diesen Brief einem Lokführer mitzugeben und ich will Dir noch kurz einige liebe Worte schreiben. Wedde, wie es hier aussieht und was hier für eine Panik herrscht, lässt sich nicht beschreiben. Nach der heutigen Nacht glaube ich nicht mehr daran, dass wir uns auf Erden wieder sehen werden. Und darum soll dies mein Abschiedsbrief an Dich sein. Verlassen dürfen wir Hamburg nicht und einmal müssen wir alle sterben. Ich bin ja so froh, dass Mutter diesen Kummer nicht mehr miterlebt. Ihr kommt da schon mit der Zeit drüber. Ein Trost soll für Dich sein, dass Väti gestern überraschend wiedergekommen ist. Dauernd ist Alarm. Ich kann nichts tun, ich habe noch nicht mal meine Betten gemacht und es ist schon bald Zeit zum Schlafen. Ich sitze nur immer da und warte bis man mir eine Kunde von meinem Väti und den Kindern bringt. Meine liebe Wedde, kannst Du unsere Not hier verstehen? Ich kann nicht kochen. Es gibt kein Gas, kein Wasser, die Läden sind immer geschlossen. Nichts, nichts gibt es. Das Einzige, wir warten mit Sehnsucht auf die Nachricht, ob nicht ein Wunder angesagt wird. Das ist nun totaler Krieg. Liebe Wedde, Du hast uns immer so viel Liebes getan. Ich danke Dir von ganzem Herzen. Gutmachen können wir es bestimmt nicht mehr. Ich schreibe Dir nun noch meine Versicherungen und die Nummer von meinem Banksparbuch.... Wenn man telephonieren könnte, würde ich anrufen. Wer hätte das bei unserem Abschied im Mai gedacht...

Harburg 2. VIII. 43

Meine liebe Wedde! Drei Nächte haben wir nun auch wieder geschlafen, ohne Alarm und wir sind wie neu geboren. Wedde, Hamburg gibt es nicht mehr. Hamburg ist wegrasiert und zwar so dass die Stadt in 50 Jahren nicht wieder aufgebaut werden kann. Wieviel Tote es nur in einer Nacht gegeben hat, darf ich Dir nicht sagen, vielleicht mal mündlich. Täglich verlassen bis 8000 Menschen die Stadt, die man nicht verlassen soll. Da aber unser Väti hier ist, ist es für uns selbstverständlich, dass wir hier bleiben. Väti hat im Garten einen wunderbaren Bunker gebaut. Da gehen wir nun hin, wenn Alarm ist. Und vielleicht ist es Gottes Wille, dass wir am Leben bleiben. Hamburg brennt jetzt noch. Wasser haben wir, doch Gas immer noch keines. Auf dem Hof habe ich mir einige Steine zusammengelegt. Darauf koche ich wie im Urwald. Gestern habe ich sogar 20-mal Marmelade dort gekocht und 45-mal Bohnen eingedünstet. Man kann ja die Sachen nicht verkommen lassen. Unsere Siedlung ist beinahe leer, alles ist geflüchtet. Zwei Häuser von uns weg ist ein Blindgänger gefallen. Das Gefühl als der runtersauste war furchtbar. Du kannst, wenn Du da so sitzt, nichts denken. Du betest nur immer, dass Du verschont bleibst oder dass es gleich zu Ende ist. Es gibt ja hier Schicksale, die schreien zum Himmel. Wir haben trotz allem noch nie bereut, dass wir wieder zurück sind und die Kinder wollen auch auf keinen Fall wieder weg.

Harburg 9. VIII. 43

Meine liebe Wedde! Heute kam Dein liebes Briefpäckchen bei uns an. Vielen, vielen Dank. Bis jetzt geht es uns noch gut, und momentan haben wir auch Ruhe sodass wir wieder neuen Lebensmut und Hoffnung haben. Wenn allerdings abends unser Väti nach Hause kommt und wieder von dem Elend erzählt, dann ist mit einem Schlag alles vorbei. Es ist aber auch entsetzlich, wer das nicht gesehen hat, kann sich kein Bild davon machen. Beim letzten Angriff war speziell Harburg an der Reihe, dabei war ein Gewitter wie wir es noch kaum erlebt haben. Wir dachten die Welt geht unter. Hoffentlich kommt bald die Vergeltung. Wir fiebern alle danach. Wedde, hier sind so viele Kinder, von denen die Eltern jetzt tot sind. Wenn es bei uns so sein sollte, nimm Dich bitte meiner Kinder an. Ich hoffe, dass sie brauchbare Menschen werden und niemand zur Last fallen. Ich habe sie immer in dem Sinn erzogen.

Denke nun nicht, wir wären Schwarzseher. O nein. Aber nach dem Grausigen hier muss alles geordnet sein. Väti sagt, sie haben in Russland manche Stadt kurz und klein geschossen. Aber dann sah es nicht so aus wie in Hamburg. Gebe Gott, dass dieses Morden bald aufhört. Ralph fährt morgen nach Osnabrück zu Walters Frau. Da gibt es allerhand zu regeln. Ich glaube, dass meine Schwiegereltern die zwei Söhne nicht lange überleben. Es hat sie unsagbar hart getroffen. Es ist auch so grausam, wenn man innerhalb von vier Monaten zwei Söhne hergeben muss. Manchmal fasse ich es nicht, dass Ralph, der immer in vorderster Linie war, noch heil und gesund bei uns ist. Wir sind auch so überglücklich und nützen mit den Kindern zusammen jede Stunde des Beisammenseins aus.

Harburg 3. III. 45

Meine liebe Wedde! Solange Alarm ist und wir nicht in den Bunker müssen, will ich die Zeit ausnutzen und Euch einen kleinen Gruß zu senden. Wir haben wieder einen heftigen Terrorangriff hinter uns.

Unsere Siedlung hat tüchtig was abgekriegt. Was ist das aber alles klein um die Sorge um Ralph. Wedde, ich habe noch keine Nachricht. Gott gebe, dass überhaupt noch mal eine kommt. Nun ist Posen aufgegeben und wo ist unser Väti? Es war mir noch nie so schwer und doch glaube ich fest daran, dass er noch gesund ist. Ich muss auch tapfer sein und glauben und wieder glauben, denn das gibt ihm sicher auch in der Ferne Kraft - und die braucht er sicher dringend. Wedde, bittet mit mir um Ralphs Wiederkehr, ich kann ihn nicht hergeben, dazu war unsere Ehe zu glücklich. Euch alles Liebe und Gute und innige Grüße von Eurer Wedde und Kindern.

(abendblatt.de)