Buxtehude bekommt vor dem Rathaus eine eigene Speakers' Corner. Jeder Bürger darf dort fünf Minuten lang zum Volk sprechen.

Buxtehude. Es ist der 19. September 1946. Deutschland liegt, so wie weite Teile Europas, in Trümmern. Der britische Premier Winston Churchill verweilt im von Krieg und Zerstörung verschontem Zürich in der Schweiz. Er tritt an das Rednerpult im Hörsaal der Züricher Universität und setzt zu einer denkwürdigen Rede an.

Winston Churchills Rede gilt als Beispiel für gute Rhetorik

"Wir alle müssen dem Schrecken der Vergangenheit den Rücken kehren und uns der Zukunft zuwenden. Wir können es uns einfach nicht leisten, durch all die kommenden Jahre den Hass und die Rache mit uns fortzuschleppen, die den Ungerechtigkeiten der Vergangenheit entsprossen sind. Sollte das die einzige Lehre der Geschichte sein, die die Menschheit zu erlernen unfähig ist?", fragt Churchill. Schweigen. "Lasst Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Freiheit walten!", sagt der britische Premier und plädiert dann für die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa.

Churchills Rede von 1946 gilt als Meisterwerk der Rhetorik. Mit ihr reihte er sich in die Garde bedeutender Redner wie Perikles, Demosthenes, Publius Cornelius Scipio, Marcus Tullius Cicero, Martin Luther oder Abraham Lincoln ein. Doch nicht jede Rede muss so geschliffen sein wie die der Meister ihres Fachs. Das findet zumindest Arne Gronemeier vom Verein "Hedgehog Toastmasters Club" in Buxtehude. "Jeder sollte einfach mal sagen können, was ihn bewegt", sagt der 40-Jährige, dessen Verein sich der Kunst der Rede verpflichtet fühlt. Und genau das will der Verein jetzt ermöglichen. Buxtehude erhält vom kommenden Sonnabend an jedes Wochenende zur Marktzeit eine "Speakers' Corner". Eine Kiste, auf die später jeder Bürger als Redner steigen kann, wird vor dem Rathaus aufgestellt. Dann hat jeder, der will, fünf Minuten Zeit, über sein selbst gewähltes Thema vor dem Rathaus zu reden.

"Mein Vater hatte vor einigen Monaten die Idee, nach dem Vorbild im Londoner Hyde-Park auch in Buxtehude eine Speakers' Corner einzurichten. Zuerst meinten einige, dass mein Vater plötzlich größenwahnsinnig geworden sei, aber sehr schnell fanden alle im Verein die Idee gut", sagt Gronemeier. Und auch außerhalb des Vereins wurde die Idee so gut aufgenommen, dass Gronemeier klar war, dass die Idee schleunigst in die Tat umgesetzt werden muss.

Bis zur Kommunalwahl sollen nun Bürger und Politiker auf der Kiste stehen und die Themen ansprechen, die aus ihrer Sicht angesprochen werden sollten. Ob es sich um den Supermarkt von nebenan, um die Autobahn, oder das Programm einer Partei handelt, das ist einerlei. "Die Hauptsache ist, dass wir Spaß dabei haben und darüber hinaus eine neue Redekultur in Buxtehude etablieren können. Vielleicht fördert das ja unsere Demokratie", sagt Gronemeier. Nur eine Rahmenbedingung gibt es für alle Redner: So, wie in London nicht über die Queen, darf in Buxtehude nicht über den Bürgermeister geschimpft werden.

Mehrere Politiker wollen vor der Kommunalwahl auf der Kiste stehen

Die Buxtehuder Ratsparteien wurden von Gronemeier angeschrieben, um an der Rede-Aktion teilzunehmen. Die Politiker der Grünen hatten sofort zugesagt, von der Kiste aus eine fünfminütige Rede halten zu wollen.

Der stellvertretende CDU-Vorsitzende in Buxtehude, Alexander Krause, findet die Aktion ebenfalls witzig und positiv. "Ich werde mich vielleicht auch auf die Kiste stellen", sagt Krause. "Es ist grundsätzlich eine sehr schöne Idee, weil sich alle frei zu einem Thema ihrer Wahl äußern können. Ich fände es aber schade, wenn diese Möglichkeit der öffentlichen Rede von einigen missbraucht werden sollte", sagt der Buxtehuder. Dass dies passieren könnte, befürchtet die Buxtehuder SPD-Kreistagsabgeordnete Astrid Bade. "Ich frage mich, ob das vor der Kommunalwahl der richtige Zeitpunkt ist. Die Idee ist grundsätzlich gut, nur haben wir zur selben Zeit die Stadt voller Wahlkampfstände", sagt sie. Ein zusätzlicher Rednerplatz vor dem Rathaus könnte, so glaubt sie, für einige Bürger zuviel des Guten werden. "Außerdem droht immer die Gefahr, dass im Wahlkampf ein Thema zu stark aufgeheizt werden könnte", so die SPD-Politikerin.

Gronemeier hofft auf witzige und gesittete Beiträge

Diese Gefahr sieht Gronemeier eigentlich nicht. "Wir haben die Redezeit auf fünf Minuten begrenzt, damit wird einem Ausufern automatisch Einhalt geboten", sagt er. Auch wenn es in London immer wieder skurrile Redner am Speakers' Corner gebe, so hofft der Buxtehuder, dass die Buxtehuder zwar offen ihre Meinung sagen, sich dabei aber gesittet verhalten und vor allem mit Humor an die Sache gehen. "Es steht jedem frei, worüber er reden will. Es muss nicht immer Politik sein. Es können auch ganz andere Dinge angesprochen werden", sagt Gronemeier. Etwa eine Analyse des letzten Fußballspiels, eine Rede über das beste Bier in der Region oder über die soziale Bedeutung von Grillpartys.

Der Buxtehuder kann sich vorstellen, dass das Modell auch in anderen Städten Nachahmer finden könnte. "Es würde die Innenstädte jedenfalls beleben", sagt Gronemeier. Das findet auch Reinhard Elfring vom Vorstand der Stader Grünen. "Die Idee ist toll und bringt sicher viel Leben in die Städte", sagt er. "Nur, wir können so etwas in Stade nicht kopieren, wenn Buxtehude das schon macht. Wo kämen wir denn da hin?", sagt er augenzwinkernd.

Der erste der vier Rede-Tage ist am Sonnabend, 20. August, von 11 Uhr an vor dem Buxtehuder Rathaus, Ecke Lange Straße/Breite Straße.