Einst wurden hier die Schurken gehenkt. Vorher durften sie noch einmal reden, in Speaker's Corner. Heute ist dieser Ort im Hyde Park ein Platz für skurrile Weisheiten und Entertainment der anderen Art.

Hyde Park, Nordostseite, Bühne frei für John. So nennt er sich jedenfalls. Er ist Anfang vierzig, trägt einen Trench, darunter einen flatternden Umhang. "Lest die Bibel, das ist der rechte Weg", ruft er emphatisch, "dann müsst ihr nicht in die Hölle." Um seinen Worten noch mehr Gewicht zu verleihen steht er auf einem Hocker, vor ihm hat sich ein Grüppchen Neugieriger versammelt. "Ach, das erzählt er uns hier jede Woche", meldet sich ein Passant zu Wort. "Ja, und du hörst mir hier nie zu", antwortet John. Lacher im Publikum. Weisheiten am Fließband, und alles umsonst. Es schüttet aus Kübeln über Speaker's Corner, die weltberühmte und berüchtigte Debattierecke im Londoner königlichen Hyde Park füllt sich. Touristen, Passanten, Anarchisten, Kommunisten. Gelangweilte, Neugierige, Spinner, hier findet man sie alle. Immer sonntags pilgern Tausende dorthin. Um sich die Köpfe heißzureden. Um zu streiten, zu lachen, zu pöbeln. Um abzuschalten, vom Alltag, warum auch immer. Es sind Christen, Muslime, Hindus. John hat seine Zuhörer fest im Visier und den Streit entfacht. Er hat die "Heckler", die Zwischenrufer, aus ihrer Reserve gelockt. Heckler gehören zu Speaker's Corner, wie Kronjuwelen zu England. Ein Bärtiger schaltet sich ein: "Du hast doch keine Ahnung, wovon du redest", brüllt der Mann, John lächelt nur milde. Der Bärtige fuchtelt mit seinen Händen in der Luft umher, singt ein Loblied auf Mohammed, umringt von einer Menschentraube. "Du hast keine Ohren zu hören", sagt John, laut, aber gefasst. "Woher willst du das wissen?", keift der Bärtige zurück, "du sprichst von etwas, von dem du keine Ahnung hast." Nun wird John einen Tick lauter. "Du hoffnungsloser Fall. Du bist nur eifersüchtig auf mich, ich habe eine Menge Geld, und du kriegst davon nichts", sagt er, und hat die Lacher wieder auf seiner Seite. Etwas später verrät John am Rande, was er sonst macht, wenn er hier nicht debattiert. "Ich arbeite in einer Firma, die Klimaanlagen vertreibt", sagt er und lächelt. Er komme aus Afrika und wolle die Menschen zu guten Christen machen, ganz nebenbei. "Deswegen bin ich hier", sagt er, "seit 20 Jahren." So, wie Stuart McElwaine. Er ist 27 Jahre alt, stammt aus England. Er ist seit einigen Monaten in London und immer sonntags in der Speaker's Corner. "Hier kann man viele Leute erleben, wunderbar." Dabei sagt er zunächst gar nichts. Er steht nur da. Vor sich ein Pappschild. Darauf steht geschrieben: "Free Hugs", zu Deutsch: kostenlose Umarmungen. "Ich bin Botschafter für kostenlose Umarmungen", präzisiert Stuart. Alles klar? Ein paar Chinesen haben ihre Camcorder in Position gebracht. Demokratie-Schnuppern mit "Free speech" für Daheim. Zwei spanische Pärchen halten bei Stuart. Eine der Frauen geht auf ihn zu. Umarmt ihn. Küsst ihn auf die Wange. "Wunderschöne Idee", sagt die Spanierin. Stuart strahlt. "Das erlebe ich manchmal, und es ist schön. Es gibt mir viel und den Menschen", redet er sich in Form. "Menschen umarmen sich, geben sich so Energie." Wenn das alle machen würden, "wäre die Welt ein wenig besser." Nebenan umarmt sich keiner. Da fragt ein Redner einen Zuhörer: "Du denkst, dass du fliegen kannst? Du irrst. Keiner kann fliegen." Der Zuhörer: "Superman kann fliegen." Der Redner: "Jesus ist anders als Superman." Kirsten Gonther aus Norddeutschland ist mit ihrem Sohn Nicolai vorbeigekommen, bleibt kurz stehen. Sie ist Psychologin von Beruf, jetzt im Urlaub in London, und sie analysiert schnell mal die Lage. "Ich frage mich, ob die das hier alles ernst meinen", sagt sie. "So etwas müsste es in Deutschland geben", meint ihr Sohn. Entertainment, Philosophisches und skurrile Weisheiten zwischen Cola-Ständen und Eiscremehändlern.

Das war nicht immer so. Dort, wo nun traditionell Reden geschwungen werden, hauchten noch bis 1759 Englands schlimmste Rebellen und Verbrecher ihr Leben aus. "Tyburn Tree" stand hier, der legendäre Hinrichtungsplatz. Nach politischen Unruhen wurde der Ort 1866 zum Kampfplatz der Ideen. 1872 erließ das britische Parlament ein Gesetz, das Versammlungen und freie Meinungsäußerung erlaubte. Seitdem darf dort jeder sprechen. Alles ist erlaubt, außer Gotteslästerung, Obszönitäten und Attacken gegen den Parkfrieden. George Bernard Shaw, Karl Marx und Winston Churchill verkündeten hier ihre Visionen. In den 60er-Jahren gab es flammende Reden gegen Vietnam und Atomwaffen. Sogar gegen Hülsenfrüchte wurde hier schon proklamiert. Rhetorik statt Revolution. Doch glaubt man Insidern, so droht Speaker's Corner vom Tummelplatz der Querdenker und friedlichen Diskutanten immer mehr zum Ort der Gewalt zu werden. "Die Bastion der Redefreiheit hat sich in ein Schlachtfeld für religiöse Fundamentalisten verwandelt", befand vor zwei Jahrzehnten die Londoner Zeitung "Evening Standard". Spätestens seit der Veröffentlichung von Salman Rushdies Roman: "Die Satanischen Verse" im Jahr 1987, auf die Ayatollah Khomeini mit dem Todesurteil gegen den Autor reagierte, dominieren orthodoxe Muslime die Rednerecke. Todesdrohungen hört man hier bisweilen. Und seit den Anschlägen vom 11. September 2001 ist man noch sensibler in der britischen Meckerecke geworden. "Manchmal gibt es hier Schlägereien, dann hau ich schnell ab", meint Umarmungsbotschafter Stuart. Er zeigt auf eine Ecke, ein paar Meter weiter hinten im Park. Dort hat ein Polizeiwagen Position bezogen, für alle Fälle. Einen Inder, der sich ein paar Meter weiter in Rage redet, stört das nicht. Er nennt sich "Terminator 24". Er hat klobige Kopfhörer auf. Steht auf einer Trittleiter. Und springt von einem Thema zum anderen. Jetzt spricht er gerade von Frauen, schwärmt von ihrer Güte. Seine Augen blitzen. Seine Fan-Gemeinde wird minütlich größer. Ein Mann mit Rastafrisur und dunkler Sonnenbrille, der aussieht wie Bob Marley, wagt eine Frage: "Hey, was ist konkret der Unterschied zwischen Mann und Frau?" Der Inder ist schlagfertig: "Frag deine Mutter, die sagt es dir." Gelächter. Der Reggae-Mann grummelt etwas Unverständliches, der Inder legt gleich nach. Stets mit einem Lächeln auf den Lippen, damit die Botschaft nicht so ernst rüberkommt. "Bruder, ich weiß, warum du dich hasst: weil du sauer bist, dass du immer so schlecht über deine Mutter redest." Nach einer halben Stunde steht der Inder allein da. Ende seiner Show. Er isst Kartoffelsalat aus einer Plastikschüssel. "Wenn man hier stundenlang spricht, das kostet Kraft." Er lächelt. "Und Nerven. Man muss alles mit Humor würzen, was man sagt." Er ist in London aufgewachsen, sei immer wieder hier, "das ist eine Abwechslung zum Beruf, eine Herausforderung, und das Debattieren macht Spaß." Seine Meinung frei äußern zu können, "das ist Demokratie, oh ja". Manchmal kämen auch Promis vorbei. Sean Connery habe er kürzlich hier gesehen. "Und Madonna", sagt er stolz. Wofür er eintrete, rede, warum er Terminator 24 heiße? Er lächelt nur, schweigt. Dafür verrät er, warum er seine Kopfhörer aufhat. "Warum? Ganz einfach. Wenn es mir hier zu dumm wird, das Gerede der Leute, dann höre ich Rockmusik." Musikberieselung, Ruhe im Hexenkessel der Speaker-Ecke.