Auffallend häufig kommt es im Landkreis Stade zu aufsehenerregenden Morden und anderen Todesfällen. Die schwierige Suche nach einer Antwort.

Landkreis Stade. Es ist derselbe Flur. Dieselbe Tür und dieselbe Treppe. Kathrin Biehl fährt mit der Hand über das Schränkchen an der Wand. "Nur die Möbel haben wir selbst mitgebracht", sagt die 46-Jährige. Das Haus war komplett leer, als sie, ihr Mann und ihre zwei Jungs am 1. Mai eingezogen sind. Als die Frau von Gerd H. sie gefragt hatte, ob sie die Doppelhaushälfte am Koppelring in Oldendorf übernehmen wollen, war sich Kathrin Biehl zunächst nicht sicher. "Wir haben überlegt, ob wir das wirklich machen sollen." Doch dann dachte sie: "Wir waren ja nicht dabei. Und wer weiß schon, was in anderen Wohnungen passiert ist, in denen man lebt?"

Jetzt tritt Kathrin Biehl Tag für Tag auf dieselben hellen Fliesen, auf denen Gerd H. gestorben ist. Er hatte den Fehler begangen, abends die Haustür zu öffnen, als es bei ihm klingelte. Dass ihm plötzlich zwei Maskierte gegenüberstanden, Geld wollten, ihn fesselten und knebelten, konnte er nicht ahnen. Mehr als ein halbes Jahr ist das her. Gerd H. liegt mittlerweile auf dem Oldendorfer Friedhof begraben, und seine Frau, die den Raubüberfall schwerverletzt überlebte, hat das Haus weitervermietet. Zu viel Erinnerung.

Johann Schlichtmann schüttelt ungläubig den Kopf. Warum? Dieses eine Wort kreist immer wieder in seinem Kopf herum. Der 56-Jährige ist Bürgermeister in Oldendorf, im Dorf geboren und seit 1972 Polizist in Stade. 50 Meter Luftlinie liegen zwischen seinem Haus und dem von Gerd H. An jenem Abend waren seine Frau und er bei ihrem Sohn in Rotenburg an der Wümme. Als sie um halb elf nach Hause kamen, stellte er nur den Wagen weg. Er ließ die Rolladen herunter und ging ins Bett. "Ich kann es einfach nicht fassen, dass einem selbst alles ganz normal vorkommt, aber zur gleichen Zeit jemand wenige Meter weiter um sein Leben kämpft."

Schlichtmann greift in seine Jackentasche und putzt sich mit einem Taschentuch die Nase. Langsam steckt er das Tuch wieder in die Tasche zurück und faltet die Hände. Es fällt ihm schwer, die richtigen Worte zu finden.

"Eine der schlimmsten Sachen ist, dass man zunächst viele Unschuldige verdächtigt", sagt er. Er war als Polizist mit in die Ermittlungen eingebunden und musste allen Hinweisen aus dem Ort nachgehen. Wem kann man überhaupt noch vertrauen? Das war die Frage, die er sich wieder und wieder stellte. Zum Glück, sagt er, vergesse man mit der Zeit viele schlimme Dinge wieder. Seine Hände liegen immer noch gefaltet in seinem Schoß.

Warum? Und warum immer wieder im Landkreis Stade? Warum hier, wo es die herrliche Landschaft und die wunderbaren Orte zwischen Elbe und Geest den Menschen doch so einfach macht, ein schönes Leben zu führen? Darauf weiß auch Herbert Kreykenbohm keine Antwort. Der 59-jährige müsste es eigentlich wissen. Der Sprecher der Stader Polizeiinspektion ist seit 41 Jahren im Dienst und hat viele Ermittlungen zu Todesfällen begleitet. Erst aufgrund der räumlichen und zeitlichen Nähe zu tragischen Ereignissen denke man: "Oh, schon wieder ist etwas passiert."

Bei jedem unnatürlichen Tod muss zunächst einmal die Polizei ermitteln. Das gelte auch für jemanden, der im Krankenhaus stirbt und Krebs hat. Wenn der Notarzt davon nämlich nichts weiß, stellt er einen unnatürlichen Tod fest - und schon ist die Polizei mit im Boot. Ein Blick auf die Tötungsdelikte der vergangenen Jahre gibt für den Landkreis Stade ein durchschnittliches Bild wieder: 2010 gab es drei Fälle, 2009 fünf, 2008 vier, 2007 zwei und 2006 drei. Bei den Verkehrsunfällen pendelt die Zahl seit Jahren zwischen dem Minimalwert von 15 Unfalltoten 2002 und dem Maximum von 26 im Jahr 2006.

Thomas Kück, Superintendent vom evangelisch-lutherischen Kirchenkreis Stade, hat die Bibel auf den Schreibtisch seines Büros gelegt, um nach Texten für eine Predigt zu suchen. Das hölzerne Kreuz am rechten Ende des Tisches erinnert ihn an das Sterben Jesu. Das Schiffsmodell auf der Fensterbank an die Weite der Welt. "Bei diesen Todesfällen im Landkreis muss man differenzieren", sagt er und faltet seine Hände. Erst die Summe der Ereignisse, die Häufung des Todes, das erst mache das Ganze für den Menschen häufig so schrecklich und unerklärlich.

Kück spricht von Grenzerfahrungen, wenn der Mensch bei einem Todesfall erkennt, dass er zwar vieles in seinem Leben selbst bestimmen kann, aber längst nicht alles. Der Superintendent ringt um Worte, wenn er über den Tod spricht. "Es gibt eine dunkle, verborgene Seite an Gott, den deus absconditus, wie Martin Luther gesagt hat." Der Begriff steht für das Unergründliche. Der Glaube, ist er sich sicher, gebe Halt. Aber er schütze nicht vor den Gefahren, die sich im Leben ereignen.

Die Rosen blühen friedlich auf dem Grundstück neben den Apfelplantagen. Wilhelm Stubbe geht an der kleinen Windmühle aus Holz vorbei und blickt auf eine Stelle am Graben. "Hier war es", sagt der 74-Jährige und zieht ein paar Sträucher zur Seite. Hier lag die 16-Jährige, erfroren in der Nacht nach dem Weihnachtsball. Stubbe ist seit 44 Jahren Besitzer des Fährhauses Kirschenland in Jork und hat an Weihnachten, Ostern und Karneval regelmäßig zu großen Feiern in sein Gasthaus geladen. "Nie ist etwas passiert", sagt er mit einer Spur Verzweiflung in seiner Stimme. Am Morgen nach dem Fest sei er noch über den Parkplatz gegangen und habe sich darüber gefreut, dass so viele Gäste ihre Autos stehen gelassen hatten. Da ahnte er noch nichts von dem Unglück vier Hofauffahrten neben dem Fährhaus.

"Man spürt die Trauer und die Tragödie"

Als eine Woche nach dem Weihnachtsball, an Silvester, ein Junge aus Jork nach einer anderen Party ebenfalls im kalten Schnee starb, stand für Stubbe fest: Wir veranstalten keine großen Feiern mehr. Wir können das einfach nicht verantworten. Nie werde er den Moment vergessen, als er zwei Tage nach dem Tod des Mädchens an der Haustür der Eltern stand: "Meine Hände haben so sehr gezittert, ich konnte kaum den Klingelknopf treffen."

Was ist los in diesem Landkreis, trifft ihn das Schicksal tatsächlich härter als andere Regionen? Landrat Michael Roesberg fährt mit einer Hand an den Kragen seines Hemdes und schüttelt abweisend den Kopf. "Wenn man etwas kennt, ist man viel aufmerksamer", sagt er. Das sei zum Beispiel so, wenn eine Frau schwanger sei und auf einmal viele mehr andere schwangere Frauen wahrnehme als sonst. Und nur weil einem in Stade die Orte von tragischen Todesfällen namentlich bekannt seien, denke man, es handele sich um eine Häufung von Ereignissen.

Seltsam sei das Ganze ja schon, sagt hingegen Dietrich Alsdorf und lehnt sich in seinem Stuhl in Agathenburg zurück. Der 58-Jährige erforscht die Geheimnisse der Vergangenheit, er weiß um die menschlichen Abgründe, sein Spezialgebiet sind die Richtstätten der Region. Darüber und über die Verbrechen des 19. Jahrhundert hat er viele Bücher geschrieben.

Für Dietrich Alsdorf ist ein tragischer Todesfall schon lange nichts Überraschendes mehr. Ganz im Gegenteil, mit dem Wissen um die Historie relativieren sich viele Ereignisse der Gegenwart. "So traurig es ist, die heile Welt hat es natürlich nie gegeben."

Für Bestatter Thomas Stelzer gehört der Tod zum Berufsalltag. Wenn ein Mensch stirbt, ist der Leiter des Stader Beerdigungsunternehmens Queren und Sohn für die betroffenen Familien oft der erste Ansprechpartner. "Man weiß nie, wie die Angehörigen reagieren", sagt er. Ein Standardprogramm, das er abspulen könne, gebe es nicht.

Stelzer hört dann einfach nur zu. Auch er kann auf das Warum des Sterbens keine Antwort geben. "Es geht nur darum, als stiller Begleiter neben den Angehörigen zu stehen." Stelzer macht eine Pause, denkt nach.

Selbst wenn der Tod für einen Bestatter in erster Linie ein Geschäft ist - er kann seine Gefühle nicht einfach so abstellen. Wenn er zu einer Unfallstelle gerufen werde, sei gar nicht der Anblick der Leichen das Schlimmste. "Da handelt man ganz rational." Nein, es ist die Begegnung mit den verzweifelten Angehörigen, die ihn viel stärker mitnimmt. "Man spürt die Tragödie und die Trauer." Noch Jahre später hat er ihre Gesichter vor Augen.